Eine durchtriebene Form des reflexiven Schreibens als Grundbestand der Moderne zelebriert Grünmandl auch in seinem scheinbar leichtesten und heitersten Buch Es leuchtet die Ferne … (1985). Mag bei Gebildeten unter den Lesern jegliche Gleichsetzung von Autor und Erzählung tabu, ja, geradezu verpönt sein und als Ausdruck von Banausentum gelten – wie alle früheren Protagonisten erinnert auch der Kaufmann Franz Krambacher, Verfasser des satirischen Reiseberichts (so der Untertitel des Buches), an Grünmandl selbst. Genauer gesagt – der Erzähler spielt unter Pseudonym das Spiegelbild des Kabarettisten „Grünmandl“. Krambacher geht nach langgehegtem und immer wieder aufgeschobenem Plan mit Fridolin, Großneffe der Hofratswitwe Frieda und zugleich Patenkind von deren Ehemann Enoch Achter, auf Reisen nach Südostasien. Schon im oberen Inntal bei Landeck fühlt er sich bemüßigt, besagter Witwe und Erbtante, die überdies Kennerin antiker Möbel ist, brieflich Bericht darüber zu erstatten, wie es in der Welt so aussieht. Im Anblick der Landschaft wird über die Doppelbedeutung des Wortes „Ekel“ bramarbasiert, der Bericht über Verwandtschaftsverhältnisse und Familienverhältnisse der beiden Reisenden verdichtet sich zu doderesker Unüberschaubarkeit; ein Schützenverein bekommt sein Fett ab, ein Fußballclub wird gelobt und unverhofft setzt eine Tirade gegen den Wiener Opernball ein: Erholt vom Schock zweier Weltkriege habe sich dieser als „beschwingter Staub aus verkohlten Trümmern“ zu einem „von Protzentum und äffischem Zeremoniell heiter durchwirkten Champagnerzeltfest der mitteleuropäischen Hochbonzokratie“ erhoben. Bösem Scherz und Satire folgt sogleich noch tiefere Bedeutung derart abrupter Zeitsprünge auf dem Fuß: Krambacher, der frühe Globalisierungstourist, bleibt auf seinem Weg nach Singapur und Hongkong mit seinen Betrachtungen zum Aussehen arabischer Ziffern, der Verkostung von Krokodilfleisch und der Erinnerung an Krainerwürste sowie familiäre Intrigen seiner Heimat nicht nur brieflich verbunden. Mit zunehmender Entfernung verstrickt er sich immer tiefer in seine Familiengeschichte – Enoch Achter war seinerzeit nach Dachau verbracht worden. Der Schrecken der Erinnerung ist plötzlich so neu, als wäre es gestern gewesen. Die Vergangenheit, die nicht vergehen will, taucht in allen Romanen Otto Grünmandls vielfach rudimentär und mehr oder weniger verschlüsselt auf – hier wird der düstere Schatten der Nazizeit schließlich mit den Mitteln der Tragikomödie, wie es einst von Charly Chaplin im Großen Diktator oder in Jakobowsky und der Oberst vorgeführt wurde, gebannt. In siebenundzwanzigtausend Fuß über dem Indischen Ozean wird nicht nur geschnapst (inklusive Anmerkung für bundesdeutsche Leser: „*Schnapsen oder 66: in Österreich beliebtes Kartenspiel“), der Erzähler findet auch zur ultimativen Formulierung über Österreichs „Anschluss“ an das Dritte Reich im Jahre 1938, das für den jungen Otto Grünmandl so schicksalhaft gewesen war: „Das Land feierte seinen Untergang.“ Im Hintergrund jedes Karnevals aber lauern Mord und Totschlag. In stratosphärischer Leichtigkeit und mithilfe von sechs Brandys schließt sich zuletzt der Kreis von Leben und Werk zu einem „sensationellen Tatbestand“ des ganzen Lebens: „Ich war doch jetzt eben auf dem Klo gewesen, 27000 feet über dem Indischen Ozean. Hätte ich mir das jemals träumen lassen, als ich damals im Geographieunterricht zum erstenmal von der Existenz des Indischen Ozeans erfuhr?“ Heimkehr ist unvermeidlich, doch löst sich diese wie der satirische Reisebericht unter dem Brummen des Jumbo-Jets in einen Reigen von Kindheitserinnerungen durch Zeiten und Räume auf. Der melancholische trunkene Erzähler schaut als selbstbewusster Autor in die Kamera und beginnt sein Spiel als Einmannkabarettist. Als Schriftsteller kann Otto Grünmandl jetzt endlich wiederentdeckt werden!
Erich Klein
Manchmal, wenn das Geschäft ganz voll war und die Frauen sich an den langen Ladentisch drängten, die Frauen mit den großen, schweren, von Brot und Gemüse überquellenden Einkaufstaschen, und manche mit ihren leeren Netzen und manche nur mit einem kleinen, ledernen Handtäschchen, ein, zwei mit knallroten Lippen, schwarzumrandeten Fingernägeln, frechen Stimmen, und andere schwer und geduldig, und die meisten gehetzt und getrieben zu schnellem Tun, und alle sich an den Ladentisch drängten, an das lange, hellbraune, hölzerne Pult, einen Verkäufer zu kapern, einen Kommis, der sie bedient, der ihnen forthilft, der sie anhört, der ihnen die Ware gibt für ihr Geld. Bunte Ware für ihr graues Geld. Und das lange, hellbraune, hölzerne Pult vollgehäuft war: da mit bunten Schürzendrucken, blauen, roten, dort mit braunen, schwarzen, grauen Wollstoffen und Wäsche, drei, vier Schachteln Unterhosen übereinandergestellt, und einer zeigt Strümpfe, feine, seidene, durchsichtige Strümpfe, und fährt mit gespreizten Fingern durch vollfassonnierte Waden.
Und alle ihre Gesichter zu den Verkäufern auf der anderen Seite des Pults recken, ihre roten, blassen, abgehärmten, frischen, gleichgültigen, zweifelnden, vertrauensvollen Gesichter, und manche riechen angenehm, und andere wieder stinken vom Mund. Und die Stimmen der Verkäufer – eindringlich, beschwörend, kalt, leichthin oder auch nur mit stummen beredten Händen die Waren anpreisend – sich mit den ihren vermischen, und die Luft in dem langen, schmalen Schlauch von einem Geschäft voll und verbraucht war von Reden, Husten, Kichern, Schnaufen, Schreien, Feilschen, Lachen, bösem Gezänk oder gutmütigem Geplänkel.
Manchmal passierte es dann, daß inmitten dieses Gedränges, inmitten dieses Wirrwarrs ausgestreckter, gebender und begehrender Hände, die Tür aufging und ein bleicher, fetter, junger Mann hereinkam, flüchtig-verlegen nach allen Seiten grüßte und mit großen Schritten auf den fahlroten, verwaschenen Samtvorhang zustrebte, der den Laden nach hinten abschloß, ihn zur Seite schlug und dahinter verschwand. Dies ging jedoch immer so schnell vor sich, daß es niemals mehr als nur zwei oder drei Kunden bemerkten. Das allerdings waren dann meistens solche, die noch nicht bedient wurden. Wenn diese dann fragenden Blicks die Verkäufer anschauten oder den an der Kasse thronenden Chef, fragend, warum da ein offensichtlich zum Geschäft Gehöriger – das konnte man leicht an der ganzen Art seines Auftretens feststellen –, warum da also ein solcher eben an ihnen vorbeigegangen war, ohne sie nach ihren Wünschen zu fragen, worauf sie als Kunden wohl rechtens Anspruch hatten, dann wurde ihr Frageblick stereotyp mit dem knappen Satz beantwortet: „Herr Pizarrini macht die Buchhaltung.“
Pizarrini, der bleiche, fette, junge Mann, war immer schon hinter dem Vorhang verschwunden, wenn der Chef oder einer der Verkäufer den aufsteigenden Unwillen der fragenden Kunden mit dieser simplen Erklärung besänftigte. Er hörte es durch den Vorhang hindurch, wie er ja alles durchhörte, hatte aber noch nie beobachten können, wie schnell diese lächerlichen paar Worte alle befriedigten. Sie nickten gewöhnlich ernst mit den Köpfen und blickten mit verhohlenem Respekt auf den schäbigen Vorhang hin, hinter dem sich ein Teil jener geheimnisvollen Maschinerie bewegte, deren seltsamen, nicht ergründbaren Wesenszügen und Gesetzen sie sich ausgeliefert fühlten, seit sie dem Schulalter entwachsen waren. Pizarrini erwiderte, sooft er diesen im Ton einer Generalabsolution gesprochenen Satz hörte, regelmäßig mit einem leisen, gehässigen „Bäh“. Dann – er hörte ihn immer, bevor er sich noch niedergesetzt hatte – ließ er sich auf dem altmodischen Drehstuhl an seinem Schreibtisch nieder und begann zu arbeiten.
Ab und zu blickte er von der Arbeit auf und sah auf den Vorhang hin, durch den von draußen der vielgestaltige Lärm aus dem Verkaufslokal in sein kleines, weißgetünchtes Büro klang.
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