Er griff an die Brusttasche seines Rockes und nickte befriedigt. Seine Brieftasche war bei ihm. Er brauchte sie nicht herauszuziehen, um nachzusehen, wieviel Geld er darin hatte. Er wäre ein schlechter Buchhalter gewesen, hätte er das nicht auch so gewußt. Er trug viel mehr Geld bei sich als gewöhnlich, der Teufel mochte wissen, warum, er trug sein halbes Monatsgehalt bei sich, fünfhundert Kronen. Er wäre ein schlechter Buchhalter gewesen, hätte er nicht nachgezählt.
Er war nun schon ein gutes Stück von dem Ort seiner Niederlage weg, befand sich aber noch immer in einem der äußeren Bezirke der Stadt. Sein inneres Gleichgewicht war wieder halbwegs hergestellt, und wie er vordem mit Sicherheit wußte, daß er nicht hineingehen würde, so wußte er nun mit Sicherheit, daß er hineingehen und sich besaufen würde. Er ging geradeaus weiter und beschloß, seinen Entschluß, sich zu besaufen, im nächsten auf der rechten Straßenseite gelegenen Gasthaus auszuführen. Er hatte Glück, daß er das nächste zu seiner Rechten gelegene Gasthaus gewählt hatte und nicht das linker Hand. Das nächste, zu seiner Rechten gelegene Lokal nämlich war der Weiße Hirsch, ein bürgerliches Haus mit soliden Preisen, ihm gegenüber jedoch, auf der linken Straßenseite, lag die als Wurzbude bekannte Olympia-Bar, die ob ihrer horrenden Preise weit über die Grenzen der Stadt hinaus berüchtigt war. Pizarrini kannte beide Häuser, den Weißen Hirschen und die Olympia-Bar, aus den Erzählungen seines Chefs.
Aber als er vor wenigen hundert Schritten beschlossen hatte, in das nächste rechter Hand gelegene Gasthaus einzukehren, hatte er weder an den Weißen Hirschen noch an die Olympia-Bar, noch an die verschiedenen Preiskategorien der beiden Lokale gedacht. Jetzt freilich dachte er daran, und er lobte sich sein Unterbewußtsein, das ihn, während er willkürlich ein zufälliges zu wählen glaubte, unwillkürlich das rechte wählen ließ. Es ist also doch auch ein Hort der Ordnung, dachte er bei sich, und nicht nur ein schwelendes Chaos verdrängter Triebe.
„Welche Gewalten streiten doch in mir“, murmelte er kopfschüttelnd vor sich hin und öffnete die Tür zum Weißen Hirschen.
Der Weiße Hirsch war ein Gasthaus, in dem hauptsächlich Arbeiter, Angestellte und kleine Geschäftsleute verkehrten. Die große Stube, in der die Schank stand, war dunkel getäfelt. An den Wänden hingen verschiedene Jagdbilder, und über der Tür war ein großer, weißer Hirschkopf befestigt, das Wahrzeichen des Hauses. In einer Ecke stand ein Billard, an dem zwei junge Männer spielten. Sonst war kein Gast da. Links führte eine Tür in ein Extrazimmer, das einem Fußballclub als Vereinslokal diente. Die Tür zu diesem Extrazimmer stand offen, und Pizarrini konnte durch sie gut an die zehn bis fünfzehn Mitglieder des Fußballclubs beobachten, die allem Anschein nach eben eine Sitzung abhielten.
„Dressenwart!“ rief jetzt einer mit einer besonders kräftigen Stimme von dem Extrazimmer in die große Gaststube hinaus. „Dressenwart, Dressenwart!“ riefen ihm gleich mehrere nach.
Lachen ertönte und von dem mit der kräftigen Stimme ein ärgerliches „Sitzung ist Sitzung!“
„Ja!“ rief jetzt einer der beiden Burschen, die Billard spielten, und legte den Queue weg, „ja, ich komme schon.“
Er ging hinein, der andere folgte ihm.
„Da ist er ja“, höhnte es von innen, „da ist er ja, da ist ja unser Dressenwart!“
Und wieder das gleiche dröhnende Lachen wie vorhin und wieder der mit der kräftigen Stimme ernst, ärgerlich: „Türe schließen! Sitzung ist Sitzung.“
Die Türe wurde geschlossen. Nach einer kurzen Weile kam ein Kellner mit weißer Schürze und Jacke heraus. Er trug ein Tablett mit einer Unmenge leerer Bierflaschen und ließ die Tür wieder offen. Er steuerte mit seiner Last auf die Schank zu und verschwand dahinter. Nach einer kurzen Weile erschien er abermals, diesmal mit einem Tablett voller Flaschen. Jetzt erst sah er Pizarrini, der inzwischen an einem der kleinen, weiß gedeckten Tische Platz genommen hatte.
„Komme gleich“, nickte er Pizarrini zu und verschwand mit seiner schweren Last in das Extrazimmer hinein. Er war ein zirka fünfzigjähriger Mann mit einer großen Glatze und einem Gesicht, dessen knollige Formen an ein Konglomerat von Kartoffeln denken ließen. „Türe zu! Sitzung ist Sitzung.“ Die Türe wurde geschlossen.
Nach kurzer Zeit kam der Kellner wieder heraus und ließ sie abermals offen. Er ging zu Pizarrini hin und fragte ihn nach seinen Wünschen. Pizarrini bestellte einen großen Schnaps. Was für einer es denn sein dürfe, fragte das Kartoffelgesicht. Pizarrini gedachte seines Vorhabens und bestellte den schärfsten, den er hatte.
„Da hätten wir einen siebzigprozentigen Kontiuszowska“, sagte das Kartoffelgesicht mit maliziösem Lächeln.
„Gut“, sagte Pizarrini, „gut, das ist das Richtige.“ Als der Kellner mit dem Schnaps wiederkam, fragte er Pizarrini, ob er nicht der Buchhalter in dem Geschäft in der Severingasse sei.
„Ja“, sagte Pizarrini, „das bin ich. Woher kennen Sie mich?“
Er habe ihn einmal, als er etwas kaufte, dort gesehen, und sein Chef, der öfters hierherkomme, habe gesagt, daß er die Buchhaltung mache.
„Ja“, sagte Pizarrini, „das sagt er bisweilen.“
„Guten Abend“, sagte der Kellner und machte eine Verbeugung zur Tür hin, durch die gerade zwei Herren eintraten. Er eilte auf die Neueingetretenen zu, half ihnen aus den Mänteln und bat sie, an irgendeinem der leerstehenden Tische Platz zu nehmen, dann fragte er sie nach ihren Wünschen. Jeder der beiden bestellte eine Flasche Bier. Er brachte ihnen das Bier und verschwand wieder in das Extrazimmer hinein. Pizarrini nahm den Schnaps und stürzte ihn auf einmal hinunter. Zuerst spürte er gar nichts, dann jedoch stieg es plötzlich ganz heiß in ihm auf und trieb ihm das Wasser in die Augen. Er schielte zu den beiden hinüber. Ob sie ihn beobachtet hatten?
Der eine der beiden schien ein feiner Mann zu sein. Er war dunkelblau gekleidet, mittelgroß, hatte ein mageres, fast etwas arrogant wirkendes Gesicht, das von einer Unmenge Falten und Fältchen durchzogen war. Gleichwohl wirkte es nicht alt. Der andere war klein, dick, rotgesichtig und schlampig gekleidet. Neue Gäste kamen herein. Sie sprachen über einen Film, offenbar kamen sie alle gerade aus einem Kino.
Der Kellner kam wieder aus dem Extrazimmer heraus, eilte diensteifrig auf die neuen Gäste zu und bediente sie.
Die zwei Billardspieler kamen ebenfalls wieder heraus und setzten ihr Spiel fort.
„Türe schließen“, schrie es wieder von innen, und ein Chor nachäffender Stimmen: „Sitzung ist Sitzung“, und darauf ein Ausbruch wiehernden Lachens, das sich wie eine Flut glucksenden und sich in phantastischen Wellen selbst überschlagenden Wassers aus dem Extrazimmer in die Gaststube ergoß und die Gespräche an den einzelnen Tischen mit sich fortschwemmte, bis es in den Ritzen und Fugen der alten Holztäfelung versickerte.
„Die Idioten“, sagte einer der Billardspieler, „man kann sich nicht einmal konzentrieren.“
Der andere ging hin und schloß die Tür.
„Noch einen Schnaps“, sagte Pizarrini zu dem gerade vorbeigehenden Kellner.
„Den gleichen?“ fragte der zurück.
„Den gleichen“, sagte Pizarrini.
„Wir haben auch fünfzigprozentigen Kontiuszowska hier“, sagte der Kellner und machte eine Miene, als böte er Pizarrini die Möglichkeit eines ehrenhaften Ausweges an.
Aber Pizarrini war nicht mehr nach einem Ausweg zumute, ihn gelüstete nach seinem Verderben. Das Angebot des Kellners ärgerte ihn.
„Ich wünsche den siebzigprozentigen“, sagte er so laut und scharf, daß der vornehm aussehende, dunkelblau gekleidete Herr mit dem Faltengesicht auf dem Nebentisch erstaunt zu ihm herüberblickte und dann seinem Begleiter, dem kleinen Rotgesichtigen, ein paar Worte zuflüsterte, worauf der ebenfalls zu Pizarrini herüberschaute.
Читать дальше