Der Fremde dankte mit bewegter Stimme; er nahm einen Stuhl und setzte sich in die Ecke am Kamin, wo der Knecht ihm den Becher und das Stück Kuchen präsentierte.
Er nahm beides, und während er aß und trank, sah mein Ahne große Tränen über seine Wangen rollen.
Die sanfte und traurige Miene des Unbekannten hatte schnell das Mitgefühl Charles Sansons hervorgerufen; er war bereits entschlossen, ihm zu helfen, da er voraussetzte, diese Tränen seien eine Folge großer Armut. Er glaubte daher nicht indiskret zu sein, als er ihn fragte, weshalb er weine.
Der junge Mann erwiderte, wenn er Tränen vergieße, so sei dies weder weil er Hunger noch weil er Durst habe; er weine bei dem Gedanken, dass er jetzt mitten unter den Seinigen sitzen sollte, im Hause seines Vaters, dass sich aber die Tür dieses Hauses eben vorher vor ihm verschlossen, dass die, denen er durch die Bande des Blutes angehöre, ihm den Anteil an den Freuden der Familie, den ihm ein Fremder so großmütig angeboten, verweigert hätten.
Die Gäste schwiegen und senkten den Kopf. Mein Ahne war sehr blass geworden, man sah große Schweißtropfen auf seiner Stirn perlen; er ergriff den jungen Mann bei der Hand und führte ihn in sein Schlafzimmer, das im oberen Stockwerke lag.
Dort erzählte ihm der Gast, dass er Nicolas Larcher heiße und der Sohn Jean Larchers sei, des Buchbindermeisters, der sechs Jahre zuvor als Besitzer und Verbreiter einer Schmähschrift gehangen worden sei.
Wie ich schon im vorhergehenden Kapitel erklärte, hatte der Sohn sich zur Zeit der Katastrophe, die seinen Vater betraf, in England aufgehalten.
Einige Monate vor seinem Tode hatte dieser an ihn geschrieben; sein Brief war traurig und voll schmerzlicher Stellen gewesen. Er hatte eine ansehnliche Zahlung zu leisten, und es fehlte ihm noch an einer gewissen Summe; er bat seinen Sohn, der damals eine Stelle bei einem Londoner Buchbindermeister gefunden hatte, ob er ihm nicht diese Summe verschaffen könne.
Der Sohn hatte darauf geantwortet, indem er alles, was er besaß, seinem Vater schickte; der letztere hatte ihm noch den Empfang des Geldes angekündigt, dann war Nicolas Larcher ohne alle Nachrichten geblieben.
Der Krieg und die auf den Briefwechsel der ausgewanderten Protestanten ausgeübte Überwachung erschwerten ihre Verbindung sehr, machten sie zwischen Frankreich und England sogar fast unmöglich.
Nicolas, der dies recht gut wusste, beunruhigte sich nicht allzu sehr. Als das Schweigen der Seinigen aber immer länger dauerte, begriff er endlich, dass ein großes Unglück seine Familie betroffen haben müsse; dennoch erfuhr er erst nach dem Frieden von Ryswik von einem Franzosen das elende Ende seines Vaters.
Er konnte nicht glauben, dass eine Mutter, die bis zum Tage seiner Abreise in das fremde Land nicht aufgehört hatte, ihm Beweise der größten Zärtlichkeit zu geben, ihr Kind vergessen haben sollte; er vermutete daher, dass auch sie tot sei, und von Angst verzehrt hatte er den Entschluss gefasst, alles zu leiden und allem zu trotzen, um sich Gewissheit zu verschaffen.
Sobald er nur imstande gewesen, den Weg zu machen, war er abgereist, nachdem er die Überfahrt durch das Mitleid eines Schiffskapitäns frei erhalten hatte; er erbettelte sein Brot und verbarg sich unter einem falschen Namen, denn wenn er erkannt worden wäre, so hätten ihn die Edikte zu den Galeeren des Königs verurteilt.
Nach mancherlei Abenteuern war er in Paris angekommen und war auf der Stelle nach der Rue Lions gegangen, nicht weil er dort seine Mutter wiederzufinden gedachte, sondern weil er den Ort wiedersehen wollte, wo sie gelebt hatte, weil er hoffte, hier am ehesten etwas über ihr Geschick zu erfahren.
Als sein Auge, nachdem er am Zölestinerkloster vorüber und längs der Mauern des Hotels Fieuber gegangen war, in die Straße Lions blicken konnte, sah er zu seiner großen Überraschung das Wahrzeichen des »goldenen Buches«, wie es sich an seiner Eisenstange wiegte und noch viel glänzender, als es je gewesen, aussah.
Er beschleunigte seine Schritte, aber bald hielt er kurz an, als ob seine Beine ihm den Weg versagt hätten: er hatte nämlich auf der Schwelle der Ladentür eine Frau erscheinen sehen, in der er seine Mutter erkannte.
Er hatte rufen wollen, aber die Stimme ließ ihn im Stiche wie vorher schon die Beine; er hatte nur einen Namen stottern und seine Arme gegen sie gewaltsam ausstrecken können.
Die Witwe Jean Larchers hatte auch ihn erblickt; ihr Gesicht war ebenso bleich geworden wie ihr Brustschleier, aber sie konnte ihr Kind doch wohl nicht erkannt haben, denn sie war schnell wieder in das Haus zurückgetreten.
Nicolas wankte wie ein Berauschter, und das Glück, diejenige, welche er tot geglaubt hatte, lebend wiedergefunden zu haben, beherrschte alle übrigen Gefühle, die sein Herz zusammenpressten.
Er näherte sich dem Hause; als er die Hand an den Klopfer der Tür legte, öffnete sich diese, und er sah sich einem Manne gegenüber, der ihm ganz unbekannt war, ihn aber zu seinem großen Staunen beim Namen nannte und einlud, näherzutreten.
Dieser Mann ließ ihn in die obere Etage hinaufsteigen, führte ihn in das Magazin, das unsere Leser schon kennen, und dort fragte er ihn mit einer Verlegenheit, die sich nur unvollkommen verbergen ließ, welche Veranlassung ihn nach Paris führe, wo die geringste Gefahr, die er liefe, das Gefängnis sei. Hierauf erklärte er ihm ohne Einleitung oder ohne ihm die Zeit zu einer Einwendung zu lassen, dass er selbst sich Chavance nenne und die Witwe Jean Larchers geheiratet habe.
Nicolas hörte ihn mit Staunen an und wusste nicht, ob er wache oder träume.
Chavance sagte ferner, dadurch, dass die Mutter seine Briefe nicht beantwortet, habe sie ihm zu verstehen geben wollen, dass er seinerseits suchen möge, sich durch Heirat eine neue Familie zu schaffen.
Und als Nicolas nun erwiderte, dass nichts in der Welt eine Mutter ersetzen könne, rief er mit einer gewissen Heftigkeit, die Religion habe Frau Chavance von allen Verpflichtungen gegen einen Sohn befreit, der in seiner Ketzerei so hartnäckig sei, auch habe sie andere Kinder aus ihrer zweiten Ehe und also auch andere Pflichten.
Dann sagte er noch mit einem zweideutigen Lächeln, er fürchte, dass die kindliche Liebe nicht der einzige Grund seiner Reise sei; zweifellos hätte er, als er den Tod seines Vaters vernommen, daran gedacht, einen Erbschaftsanteil heben zu können, aber er müsse ihm auf der Stelle sagen, dass eine solche Erbschaft gar nicht existiere. Jean Larcher sei zahlungsunfähig gestorben, die Gläubiger hätten das Haus verkaufen lassen und er, Chavance, habe es zurückgekauft; die Witwe sei in die größte Armut geraten, die Liebe und Ergebenheit des alten Gesellen hätten sie aus dem Elende gerettet.
Als Chavance diese Erzählung beendet hatte, nahm er mit sonderbarer Eile einige Papiere aus einer Schachtel, gab sie Nicolas in die Hand und forderte ihn auf, sich von der Wahrheit dieser Versicherungen zu überzeugen.
Nicolas stieß diese Papiere zurück und bat ihn inständigst, er möge ihm wenigstens erlauben, seine Mutter zu umarmen. Aber durch die Sanftmut und Geduld des jungen Mannes ermutigt, war die Sprache Chavances befehlshaberischer geworden. Er erwiderte, dass das, was jener wünsche, unmöglich sei, dass seine Anwesenheit in diesem Hause allein schon große Gefahr für die habe, die es bewohnten, dass es ihm gar nicht einfalle, so enden zu wollen, wie Jean Larcher geendet habe, dass er ihn also auffordere, Paris zu verlassen und so schnell als möglich nach England zurückzukehren, und dass, wenn er dies nicht tue, er, der vor allem besorgt sei, immer Gott und dem Könige zu gehorchen, selbst gehen werde, die Anwesenheit eines Calvinisten in seiner Wohnung anzuzeigen.
Zitternd vor Bewegung fiel Nicolas, ungeachtet der tiefen Abneigung, die er gegen den fühlte, welcher den Platz seines Vaters eingenommen hatte, vor ihm auf die Knie nieder und beschwor ihn, er möge ihn nicht in das Exil zurückkehren lassen, ohne den Trost einer letzten Liebkosung von der, die ihm das Leben gegeben, mitnehmen zu dürfen.
Читать дальше