»Meine Mutter! Meine Mutter!«
Als er bemerkte, dass Charles Sanson schwieg, fragte er ihn mit einer Lebhaftigkeit, die beinahe Heftigkeit genannt werden konnte, ob er glaube, dass seine Mutter von dem Verbrechen Chavances Kenntnis gehabt habe.
Mein Ahne senkte die Augen zu Boden und antwortete nicht; da schlug Nicolas Larcher die Hände über seinem Kopf zusammen, und als sie plaudernd der hölzernen Brücke gegenüber angekommen waren, die aus der Stadt nach der Insel Saint-Louis führt und über welche man nach dem Quartier Saint-Paul kommen kann, wollte er diese Richtung einschlagen, aber mein Ahne, der alle seine Bewegungen überwachte, hielt ihn an und beschwor ihn, sich nicht seinem gewissen Verderben auszusetzen, indem er sich ein zweites Mal bei dem Manne seiner Mutter sehen ließe.
Charles Sanson hatte seinem jungen Freunde noch gesagt, dass der Gefreite der Ansicht gewesen sei, diese Sache nicht vor Gericht zu ziehen. Als mein Ahne davon gesprochen, hatte er kopfschüttelnd geantwortet, Chavance sei ein Verwandter des Paters La Chaise, des Beichtvaters des Königs. Er war zu derselben Zeit wie Rambault und Jean Larcher durch das Pamphlet kompromittiert gewesen, und nur die hohe Protektion des Jesuiten hatte ihn vor den übelsten Folgen bewahrt. Während die Witwe Cailloué, Buchdruckereibesitzerin zu Rouen, in der Bastille starb, die Witwe Charmot und ihr Sohn an der Tür ihres Hauses in der Rue de la Vieille-Boucherie in den Bann getan worden, entging Chavance allein der Strafe durch eine Aufschubsorder, die merkwürdigerweise auf dem Grèveplatze eintraf, als der Galgen schon aufgerichtet war und der Karren eben anlangte. Es musste sich also wohl eine sehr mächtige Hand dazwischen gelegt haben, und aller Wahrscheinlichkeit nach war es daher unnütz und für einen Proskribierten obenein sicherlich ein unkluger Schritt, mit dem Schützling des allmächtigen Beichtvaters sich in offenen Kampf einzulassen. Der Sohn des Opfers konnte nur am besten tun, es der Vorsehung zu überlassen, den Schuldigen zu strafen.
Charles Sanson erwartete, Nicolas Larcher werde sich gegen den Gedanken empören, dass die Menschen ein so großes Verbrechen unbestraft lassen könnten; aber dies geschah nicht. Der Jüngling schien alle Kraft und allen Willen verloren zu haben; er war so vollständig in Nachdenken versunken, dass er mehrere Male gegen die ihm Begegnenden stieß. Der Scharfrichter ergriff seinen Arm, und er ließ sich mit der Folgsamkeit eines Kindes nach seiner Wohnung zurückführen.
Mein Ahne seinerseits hatte wohl die Eindrücke der menschlichen Seele auf die Gesichtszüge zu beobachten gelernt; diese sonderbare Ruhe erschreckte ihn, er sah darin das Anzeichen irgendeines furchtbaren Entschlusses; er trug daher Sorge dafür, dass sein Gast in das Zimmer, das er bewohnte, eingeschlossen wurde.
Als er sich aber am andern Morgen zu dem jungen Menschen begab, fand er ihn nicht mehr. Das Fenster stand offen, und die Bettücher, an denen sich Nicolas Larcher auf die Straße hinabgelassen hatte, schaukelten noch hin und her.
Ein Unglück ahnend, eilte Charles Sanson nach seinem Zimmer zurück, um sich vollständig anzukleiden, als einer der Knechte, von einer Besorgung zurückkehrend, ihn benachrichtigte, dass während der Nacht eines jener Verbrechen verübt worden sei, die ein ganzes Volk in Bestürzung zu setzen vermögen: ein Sohn hatte seine Mutter und seinen Stiefvater ermordet.
Mein Ahne erriet sogleich, wer der Schuldige und wer die Opfer seien; er lief so schnell, als sein Alter es ihm erlaubte, nach der Rue Lions-Saint-Paul.
Aus einem Auflaufe, den er vor dem Hause des Buchbinders sah, erriet er sogleich, dass er sich nicht getäuscht habe. Mit vieler Mühe brach er sich durch die Menge Bahn und erkannte, sowie er das Erdgeschoss betrat, Nicolas Larcher, der, von Gefreiten und Soldaten der Polizeiwache umgeben, auf einer Bank saß. Der junge Mann erkannte seinen Wirt trotz der Menge, die ihn umgab; er machte eine Bewegung, als wolle er auf ihn zugehen, aber er war so schwer gefesselt, dass er nur mit Mühe aufrechtstehen konnte und sogleich wieder auf seinen Sitz zurückfiel.
Als ihm nun Charles Sanson sein Verbrechen vorhielt, schlug er die Augen zum Himmel auf und rief:
»Der dort oben thront, hat es so gewollt, er hat meinen Arm geführt. Und auch ich werde, wenn ich vor seinen Richterstuhl trete, es mit Glauben und Vertrauen tun!«
Er gestand sein Verbrechen, aber ohne irgend Reue oder Gewissensbisse kundzugeben; er weigerte sich, die Umstände, die es begleitet hatten, zu erzählen, und als man ihn nach den Gründen fragte, die ihn zu dieser schrecklichen Tat getrieben hatten, antwortete er, der Herr habe ihm dieses Opfer befohlen, wie ehemals dem Jephtha, seine Tochter zu opfern.
Man führte ihn darauf nach dem Châtelet; einige Tage später erhielt mein Ahne von dem Kriminalleutnant die Erlaubnis, ihn zu besuchen.
Es gelang ihm, den Unglücklichen zu beruhigen, und nun erzählte ihm Nicolas Larcher, ohne eine Frage abzuwarten, dass er, sobald er erfahren, so große Schuldige sollten straflos bleiben, seine Seele zu Gott erhoben und ihn gefragt hätte, ob er ihn nicht strafen werde; da habe er eine innere Stimme gehört, die ihm zugerufen: »Töte sie!« und nachher hätte er nur noch an die Mittel gedacht, das Urteil der göttlichen Gerechtigkeit zur Ausführung zu bringen.
Bei dem Abendessen hatte er sich ein Messer mit spitzer Klinge ausgesucht und unter seinen Kleidern verborgen. Als er um neun Uhr abends sich auf sein Zimmer begeben, hatte er gebetet und gefühlt, dass seine Seele sich, je mehr er bete, desto mehr in ihrem Entschlusse bestärke. Darauf hatte er das Haus, in dem er Gastfreundschaft gefunden, verlassen und war in vollem Laufe bis an die Rue Lions gelangt.
Da es warmes Wetter war und das Fenster offenstand, konnte er in die Werkstatt gelangen, ohne von dem Buchbinder bemerkt zu werden. Aber der letztere hörte doch die Diele unter dem Tritte des Mörders knarren; er drehte sich um und fragte, wer da sei; doch plötzlich von instinktmäßigem Schrecken ergriffen, war er nach der Tür geeilt und hatte um Hilfe gerufen.
Aber Nicolas hatte ihn mit einem Sprunge erreicht, ehe er noch auf den Gang gelangt war, und obgleich er nur klein und schwach, Chavance dagegen groß und kräftig war, hatte er ihn beim ersten Anfalle zu Boden geworfen. Erst als er das blitzende Messer über seinem Haupte erblickte, erkannte der Buchbinder seinen Gegner. Er begriff wohl, dass er verloren sei, denn er gab es auf, um Hilfe zu rufen, er flehte nur noch mit erstickter Stimme das Mitleid des Sohnes seines alten Meisters an, und um ihn eher zur Gnade zu bestimmen, scheute er sich nicht, das ganze Verbrechen auf seine Mitschuldige zu wälzen, indem er schwur, dass sie allein und nicht er schuldig sei. Diese Anklagen verdoppelten aber nur die Rachewut, die Nicolas verzehrte; er stieß auf Chavance mit solcher Heftigkeit zu, dass er sich selbst an der Hand verwundete und dass jener nicht mehr atmete, als er noch immer auf ihn losstach.
Dann hatte er ein paar Augenblicke gelauscht. Nichts rührte sich im Hause.
Er dachte daran, zu entfliehen; aber dieselbe Stimme, die ihm am Morgen zugerufen hatte: »Töte!« hatte ihn verhärtet und fragte ihn jetzt, ob der feste Schlummer, der die Sinne der schuldigen Gattin umfing, ihm nicht beweise, dass Gott mit ihm sei. Er war nun die Treppe hinaufgestiegen.
Er glaubte die Dunkelheit sich mit Gespenstern beleben zu sehen, die ihn aufzuhalten suchten, aber ein anderes Phantom, in ein Leichentuch gehüllt, das ihm das Gesicht bedeckte, löste sich aus der Finsternis los und ging, ihm Bahn brechend, vor ihm her.
So kam er an die Tür der Kammer seiner Mutter, und ehe er noch die Hand auf die Klinke gelegt, öffnete sich diese Tür geräuschlos von selbst. Er tat einige Schritte in die Kammer hinein; die Schläferin war nicht erwacht, aber Nicolas hörte deutlich ihre Atemzüge, und es schien ihm, als sei jeder derselben eine Bitte.
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