Anita erhält durch ihr Umfeld sehr viel Unterstützung. Anfänglich hat sie allerdings aufgrund ihrer Scham Schwierigkeiten, diese Hilfe anzunehmen. Ihre Kindheit war sehr behütet und die Beziehung zu ihren Eltern ist sehr gut. Sie borgen ihr Geld, damit sie die Kreditraten abdecken kann, und kümmern sich rührend um Anitas Sohn. Freundinnen betreuen den Jungen an jenen Nachmittagen, an denen bisher der Vater auf ihn aufgepasst hat. Luise kann sogar das Angebot ihres Chefs annehmen, mehr Stunden zu arbeiten, wodurch sich ihre finanzielle Situation etwas entspannt. Sehr kränkend ist, dass die Familie ihres Mannes sich distanziert, worunter auch er sehr leidet. Naturgemäß sind auch die Erfahrungen mit der Polizei unerfreulich. Die Beamten wollen ihr zunächst nicht glauben, dass sie nichts von den Problemen des Mannes wusste. Dies intensiviert ihre Schuldgefühle.
Verstrickungen des sozialen Umfelds in das Krisengeschehen
Häufig kommt es aber auch vor, dass die wesentlichen Bezugspersonen zu sehr in das Krisengeschehen verstrickt sind oder sich überfordert fühlen. Sie tragen dann eher zur Verschärfung der Situation bei. In solchen Situationen sollte der Krisenhelfer die Distanznahme fördern und gemeinsam mit den Betroffenen entsprechende entlastende Maßnahmen für alle Beteiligten erarbeiten.
Das soziale Umfeld als Auslöser einer Krise
Schließlich kann es vorkommen, dass Menschen durch ihre Handlungen gewollt oder ungewollt krisenauslösend für ihre Mitmenschen wirken. Im privaten Umfeld ist dies naturgemäß im Zuge von Trennungen der Fall. Im professionellen Kontext können z. B. die Mitteilung einer Krankheitsdiagnose durch einen behandelnden Arzt oder die Abnahme eines Kindes durch das Jugendamt Krisen auslösen. Krisenintervention durch eine an der Krisenentstehung mitbeteiligte Person ist meist sehr kompliziert, da die Herstellung einer vertrauensvollen Beziehung durch die Umstände erheblich erschwert wird. Es ist dann meist sinnvoller, eine klare Rollentrennung vorzunehmen und andere Berater zur Krisenhilfe beizuziehen.
2.2.5 Coping – Abwehr – Ressourcen
Von entscheidender Bedeutung für die Bewertung einer belastenden Situation und den Umgang mit dieser sind die Art und Effizienz der Bewältigungsstrategien, die verfügbaren Ressourcen und die spezifischen Abwehrmechanismen. Bewältigung und Abwehr beschreiben ähnliche und teilweise sogar identische Vorgänge. Während das Abwehrkonzept aus der Psychoanalyse stammt, wurde das Bewältigungskonzept in der Verhaltensmedizin entwickelt (vgl. Ermann 2007).
»Coping oder Bewältigung ist als das Bemühen zu verstehen, bereits bestehende oder zu erwartende Belastungen durch Krisen innerpsychisch (emotional/kognitiv) zu verarbeiten oder durch zielgerichtetes Handeln auszugleichen und zu meistern« (Heim 1993, S. 29).
Bewältigungsmechanismen sind mehr oder weniger bewusst eingesetzte Denk-, Empfindungs- und Verhaltensstrategien. Die verschiedenen Strategien lassen sich zu drei typischen Bewältigungsstilen zusammenfassen (
Kasten 2.2): Verleugnung, aktive Auseinandersetzung und depressiver Rückzug (Ermann 2007). Coping ist kein einmaliger sondern ein prozesshafter Vorgang, mit dem ein Betroffener versucht, sein inneres Gleichgewicht trotz einer andauernden Belastung zu erhalten oder wiederherzustellen und dadurch den inneren und äußeren Druck zu reduzieren. Jedes Individuum verfügt über ein bestimmtes Repertoire an Bewältigungsstrategien, aus denen es in einer Krisensituation, die ihm am sinnvollsten erscheinenden auswählt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Auf dieses Ziel ausgerichtet werden die Bewältigungsversuche erprobt und auf ihren Erfolg hin bewertet. Demgemäß gibt es nicht primär schlechtes oder gutes Coping, sondern es handelt sich um den mehr oder weniger geglückten Versuch der Neuanpassung mittels der individuell verfügbaren Problemlösungsstrategien. So sind in einer Krise neben aktiven Veränderungsbemühungen durchaus auch Episoden von Rückzug und Verleugnung sinnvoll, da eine ständige bewusste Auseinandersetzung auch überfordernd sein kann.
Kasten 2.2: Wichtige Bewältigungsformen (Ermann 2007)
• Verleugnung
• Sich ablenken
• Aktive Auseinandersetzung – Zupacken
• Schuldzuweisung an andere
• Problemanalyse
• Haltung bewahren
• Gefühlsisolation, Nichtwahrnehmen von Gefühlen
Unterschiedliche Krisen erfordern auch unterschiedliche Bewältigungsstrategien (
Kasten 2.3). Assimilierende Bewältigungsvorgänge sind aktive Veränderungsanstrengungen, bei denen das Ziel mehr oder weniger beibehalten wird. Bei den akkommodierenden Bewältigungsprozessen korrigiert das Individuum teils bewusst, teils unbewusst die ursprünglichen Ziele, ersetzt diese Ziele durch andere und passt sich einer als nicht veränderbar erlebten Realität an, wie dies bei de facto irreversiblen Verlusten sinnvoll ist (Rothermund und Brandstätter 1997).
Kasten 2.3: Bewältigungsprozesse (Rothermund und Brandstätter 1997)
• Assimilierende Prozesse – aktive Veränderungsanstrengungen – Ziel wird beibehalten
• Akkommodierende Prozesse – Korrektur der Ziele, Anpassung an nicht veränderbare Realität
Fallbeispiel Luise (
Kap. 2.1)
Luise muss lernen die Entscheidung ihrer Tochter zu akzeptieren und sich auf ein Leben ohne sie einzustellen. Dies erfordert zunächst akkommodierende Bewältigungsprozesse. Das bedeutet, Abschied zu nehmen und den Verlust zu betrauern (
Kap. 3.1.1).
Fallbeispiel Anita (
Kap. 2.2.1)
Anita benötigt für ihre Krisenbewältigung beide Strategien: Sie muss den vorübergehenden Verlust des Mannes betrauern und muss sich mit dem Vertrauensbruch auseinandersetzen (akkommodierend). Sie muss aber auch das Leben mit ihrem Sohn neu organisieren und versuchen ihre finanziellen Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen. Sie nimmt Kontakt mit dem Jugendamt auf, organisiert einen Hortplatz und nimmt das Angebot ihres Chefs an mehr Stunden zu arbeiten. Sie verhandelt mit der Bank über die Modalitäten zur Kreditrückzahlung (assimilierend).
»Jeder psychische Vorgang und jedes Verhalten, welches das Ziel erreicht, etwas Gefürchtetes oder Verpöntes in Schach zu halten, kann zur Abwehr herangezogen werden« (Mentzos 2005, S. 59).
Abwehr ist von Coping zu unterscheiden. Gelegentlich bleibt die Abgrenzung wie beim Mechanismus der Verleugnung unscharf. Während Coping ein mehr oder weniger bewusster Prozess ist, stellt Abwehr einen überwiegend unbewussten Vorgang dar, der einsetzt, wenn ein Betroffener mit einem derzeit unlösbaren Konflikt konfrontiert ist, vor einer momentan unlösbaren Aufgabe steht oder überwältigende Erfahrungen macht. Abwehr stellt einen Versuch dar, die dadurch entstehende Angst und seelische Spannung zu vermeiden (Mentzos 2005). Sie führt nicht zu einer bewussten Lösung des Problems, sondern dazu, dass Erinnerungen, Phantasien, Impulse, Gefühle und Konflikte aus der bewussten Wahrnehmung und Reflexion ausgeschlossen werden. Abwehr und Coping sind lebenswichtige Funktionen des »Ich« (Ermann 2007) und nicht primär pathologisch. Abwehr kommt ständig vor und ist teilweise zur Erhaltung der Ökonomie des täglichen Lebens unverzichtbar (Mentzos 2005). Sie hat somit eine wichtige Schutzfunktion. Bestimmte Formen finden sich mit großer Regelmäßigkeit wieder, sie sind offenbar besonders effektiv. Man spricht von Abwehrmechanismen (
Kasten 2.4).
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