Bisher hatte sie ihr Leben ganz gut gemeistert. Sie hat viele soziale Kontakte und redet gerne mit ihren Freundinnen. Derzeit ist sie aber völlig blockiert. Üblicherweise packt sie anstehende Probleme aktiv an. Gerade deshalb fühlt sie sich in der jetzigen Situation so hilflos. Sie hat mehrfach versucht, die Tochter zu kontaktieren, aber diese hat ihr Handy abgeschaltet. Da sie sich für ihr »Versagen« schämt, will sie mit niemandem über die Situation reden. Sie ist krankgemeldet und verbringt die ganze Zeit alleine zu Hause. Die Situation ist so unerträglich geworden, dass sie keinen anderen Ausweg mehr gesehen hat, als alle Tabletten, die ihr der Hausarzt verschrieben hatte, einzunehmen. Sie wollte einfach nur Ruhe von den quälenden Gedanken und Gefühlen haben.
Diskussion: Der vollkommen überraschende Auszug ihrer Tochter stellt für Luise einen subjektiv unerträglichen Verlust dar. Da die Tochter der Mittelpunkt ihres Lebens war und sie davon ausgegangen ist, auch die nächsten Jahre mit ihr zu verbringen, sind ihre derzeitigen Lebensziele erheblich in Frage gestellt. Sie ist sehr gekränkt und ohne Perspektive.
Ihre Problemlösungsstrategien versagen. Sie geht üblicherweise aktiv an Probleme heran, aber derzeit gibt es für sie keine Möglichkeit zu handeln. Infolgedessen fühlt sie sich ohnmächtig und ausgeliefert. Sie redet gerne und holt sich normalerweise auch Unterstützung von ihren Freundinnen. Da sie sich aber so schämt, will sie niemanden sehen und versucht alleine zurecht zu kommen. Ihre Situation spitzt sich während dieser drei Wochen gefährlich zu. Sie ist vollkommen verzweifelt, kann nicht schlafen, sie hat Schuldgefühle und ihr Selbstwert ist sehr beeinträchtigt. Sie weiß nicht mehr aus noch ein und schließlich kommt es zum Suizidversuch. Diese an sich destruktive Handlung eröffnet aber auch eine neue Perspektive, da sie erstmals Hilfe von außen erhält und sich ihr so die Möglichkeit bietet, über ihre Situation zu sprechen.
Intervention: Die Krisenintervention umfasst acht Stunden. Die Beziehung zum Berater ist sehr vertrauensvoll, dadurch ist es Luise möglich, offen über sich und ihre Gefühle zu sprechen. Es wird ihr klar, dass sie keine andere Wahl hat, als von der Beziehung zu ihrer Tochter in der bisherigen Form Abschied zu nehmen. In den Stunden weint sie viel, manchmal ist sie über das Verhalten ihrer Tochter auch verärgert. Sie beginnt aber auch zu verstehen, dass der Auszug für die Tochter wahrscheinlich einen wichtigen Ablösungsschritt darstellt, der aufgrund der sehr engen Beziehung vielleicht nicht anders zu bewerkstelligen war. Das relativiert Luises Schuld- und Schamgefühle.
Sie nimmt Kontakt zu den Freundinnen auf, die in der Folge sehr unterstützend sind. Sie geht wieder zur Arbeit und unternimmt Dinge, die ihr Spaß machen. Am Ende der Krisenintervention geht es ihr deutlich besser. Der Trauerprozess ist natürlich noch nicht abgeschlossen. Zusätzlich wird ihr der Zusammenhang mit ihrer eigenen schwierigen Erfahrungen in der Adoleszenz schmerzhaft bewusst. Sie hat im Alter von 15 Jahren ihre Mutter durch eine Krebserkrankung verloren. Viele Erinnerungen an die damalige Situation tauchen auf. Sie überlegt daher eine Psychotherapie zu beginnen.
2.2 Faktoren, die zur Entstehung und zum Verlauf einer Krise maßgeblich beitragen
Ob sich eine Krise entwickelt und wie sie verläuft, hängt von sehr unterschiedlichen Faktoren ab, die in einer komplexen Wechselwirkung zueinander stehen. Im folgenden Kapitel werden diese Faktoren – Art und Schwere der Auslösesituation, subjektive Bedeutung des Geschehens, Krisenanfälligkeit, Reaktion der Umwelt, Problemlösungsstrategien, Abwehrmechanismen und Ressourcen erläutert (
Abb. 2.2). Die Kenntnis dieser Faktoren ist für die praktische Krisenintervention von großer diagnostischer wie auch therapeutischer Relevanz. Dies wird in Kapitel 5 weiter ausgeführt (
Kap. 5).
Abb. 2.2: Faktoren, die zur Entstehung und zum Verlauf einer Krise maßgeblich beitragen
2.2.1 Art und Schwere der Auslösesituation
Von wesentlicher Bedeutung ist selbstverständlich die Art und Schwere der Auslösesituation. Die klassischen Modelle unterscheiden je nach Plötzlichkeit des Auftretens und Bedeutung des Krisenanlasses zwischen traumatischen Krisen (Cullberg 1978) und Lebensveränderungskrisen (Caplan 1964). Da ich den Begriff der traumatischen Krise auch in Hinblick auf die Unterscheidung zu Posttraumatischen Belastungsreaktionen für missverständlich halte (
Kap. 3.1.2), erscheint es mir sinnvoller, Krisen, die durch irreversible Verluste ausgelöst werden, als Verlustkrisen (
Kap. 3.1) zu bezeichnen und von jenen zu unterscheiden, bei denen es eher um eine Form der tatsächlichen oder antizipierten Bedrohung oder Überforderung geht (vgl. Dross 2001). Diese ließen sich dann im weitesten Sinn als Krisen im Gefolge von einschneidenden Lebensveränderungen verstehen (
Kap. 3.2).
Die Schritte, die zu einer Restabilisierung führen, sind bei Verlust- und Lebensveränderungskrisen sehr verschieden und erfordern daher auch unterschiedliche Strategien der Unterstützung (
Kap. 5.2). Letztendlich entscheidet nicht nur der Anlass, sondern auch der Verarbeitungsmodus und die anderen in diesem Kapitel dargestellten Faktoren darüber, wie die Krise einzuordnen ist. Selbst ein zunächst eindeutiger Anlass, wie der Tod einer nahestehenden Person, kann zu gänzlich unterschiedlichen Krisenverläufen führen. So wird der unerwartete plötzliche Tod eines Ehepartners überwiegend Aspekte einer Verlustkrise haben. Konnte sich der Hinterbliebene hingegen nach längerer Krankheit auf den Tod eines Partners vorbereiten, ist es möglich, dass der Trauerprozess zwar »unkompliziert« verläuft, aber sich eine Krise entwickelt, weil die Schwierigkeiten, die bei der Neuorganisation des Lebens ohne den Partner entstehen, überfordernd sind. Dann finden sich unter Umständen mehr Elemente einer Lebensveränderungskrise. In beiden Fällen wird daher auch der Interventionsschwerpunkt unterschiedlich sein (
Kap. 5.2).
Eine 35-jährige Frau kommt ins Kriseninterventionszentrum, da ihr Mann wegen Unterschlagung seit vier Wochen in Untersuchungshaft ist. Sie beschreibt ihren Mann als liebevollen Partner und die Beziehung als harmonisch. Sie haben einen achtjährigen Sohn. Der Mann hatte eine leitende Position in einer Bank. Sie selbst übt eine Teilzeitbeschäftigung als Sekretärin aus. Wie sich jetzt herausgestellt hat, ist ihr Mann aufgrund einer Spielsucht hochverschuldet. Sie wusste zwar nichts von seinen Problemen, hatte sich in letzter Zeit allerdings über seine vielen Überstunden und die für ihn untypische Gereiztheit und abweisende Art ihr und dem Sohn gegenüber gewundert.
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