Björk, das Voodoo-Püppchen
Die Menge schaute immer noch dem Trio von Kuss Inc . hinterher, die schon in Berlin, Paris, Mailand, Tokio, London, New York aufgetreten sind. Ich hatte kurz davor ihr Plakat in der Toilette des Sarajewo gesehen. Rom, Amsterdam und Sydney muss man hinzufügen. All diese Städte hatten Kuss Inc . schon vor Montreal gesehen, denn wir standen am Ende der Liste. Die Welt hat unzählige Handelswege, über die Menschen und Waren gekauft und verkauft werden. Früher waren das die Seidenstraße, die Route des Zuckers, die Route der Gewürze. Heute gibt es die Tour des Profitennis, des Golfs, der Umweltschützer und der mächtigen Staatschefs. Komplexe Netzwerke. Es ist nicht einmal mehr möglich, sich in der Natur zu verlieren – die Natur wird auf das Minimum beschränkt. Die Arbeiter haben ihre eigene Metrolinie. Die Linie, die vom Arbeiterviertel zur Fabrik und zurückführt, ist immer die gleiche. Fünfzig Jahre lang Hin- und Rückfahrt, und dabei immer die Aussicht auf dieselbe Landschaft. Kuss Inc . folgt den Modeschauen auf ihrer Tour, dicht hinter den Rockstars, die gerne Models heiraten möchten. Kuss Inc . mischt sich nicht in die Szene der Rockstars oder von Kate Moss, bleibt aber doch in ihrer Nähe, um die Krümel aufzusammeln. Die große planetarische Welle der Mode und der Musik zieht in ihrem goldenen Kielwasser eine Menge bunter, lebhafter, cooler, nicht angepasster Leute hinter sich her, die bei dem kleinsten Zeichen ihrer Anführer bereit sind, vom Café Sarajewo ins Stadion weiterzuziehen, wo heute Abend Björk gastiert. Björk hätte auch im Café Sarajewo auftreten können. Was für ein Plakat: Björk im Sarajewo! Kuss Inc . als Vorgruppe von Björk. Dazu hätten einige günstige Umstände zusammentreffen müssen. Etwa, dass Björk einen Tag früher gekommen wäre, weil sie unbedingt die große Ausstellung über Voodoo im Musée des Beaux Arts in Montreal sehen wollte. Die großen Meister der haitianischen Malerei. Malende Bauern, die André Malraux einst feierte. Dies war die erste große Ausstellung außerhalb Haitis nach einer Schau in den 50er Jahren, die in den Privaträumen des Ehepaars Mellon in Manhattan stattfand. Björk ist vom Voodoo fasziniert. Als sie klein war, hatte ihr jemand eine Voodoo-Puppe geschenkt. Björk hatte sich mit der Puppe identifiziert, sie hielt sich selbst für ein kleines schwarzes Mädchen, das seine Puppe verstecken musste, weil es keinen Spaß haben durfte. Björk sprach mit der Puppe und die Puppe antwortete. Man braucht nur das maskenhafte Grinsen von Björk zu sehen, um zu wissen, dass man keine kleine, saubere, brave Isländerin, sondern ein blutgetränktes Voodoo-Püppchen vor sich hat. Das Püppchen hat den Platz der kleinen Björk eingenommen. Björk ist seither nicht mehr gewachsen. Björk, das Püppchen, will nun unbedingt die Ausstellung sehen und die Voodoo-Maler kennenlernen. Alle diese Maler wurden in den 40er Jahren entdeckt. Wie kommt es, dass sie immer noch am Leben sind? Der stechende Blick der Puppe durchdringt das Dunkel. Beim Blättern in einer Zeitschrift stößt sie auf die Anzeige mit der Ausstellung von Montreal. War sie in diesem Moment in Paris, London, New York, Berlin (Berlin, nicht zu vergessen) oder Rom? In einem Hotelzimmer? Ein Hotelzimmer ist universelles Territorium. Weiße Bettwäsche. Magische Zahl. Wenn Björk inkognito unterwegs ist, nimmt sie überall auf der Welt immer das Zimmer Nummer 17. Sie ruft ihre Managerin an, sie soll eine Show absagen, am besten Melbourne, damit sie rechtzeitig in Montreal ist, um die Ausstellung zu sehen. Die Managerin hält es für eine bessere Lösung, dass die Ausstellung für Björk verlängert wird. Sie telefoniert sofort mit Montreal. Sie muss nur den Namen Björk aussprechen, und man verbindet sie mit dem Kurator des Musée des Beaux Arts von Montreal, der sich gerade auf den Bermudas in der Sonne aalt. Der Kurator ist „tief gerührt“. Ein Anruf von Björk, oder von ihrer Managerin, aber in Björks Auftrag. Er ist ein Groupie, eigentlich nicht er, eher seine Gattin, oder nicht seine Gattin, eher seine Tochter. Der Kurator gerät ins Stottern und verhaspelt sich. Die Managerin am anderen Ende ist amüsiert. Es erstaunt sie immer wieder, dass das winzige Frauchen auch einen profunden Kenner der Moderne aus der Fassung bringen kann. Sie muss nur Björk sagen. Dabei klingt es so hässlich – Björk. Sind Sie bereit, den Termin für Björk zu verschieben (jetzt in autoritärem Ton)? Selbstverständlich, aber ich kann eine solche Entscheidung nicht alleine fällen. Nicht ohne den Verwaltungsrat. Was! Scheiße! Wie viele sind das? Sieben. Und wo sind sie? Im Urlaub, genau wie ich. Und wo? Ich weiß es nicht, Madame. Na schön. Die Managerin ruft daraufhin eine Firma an, die auf solche Notfälle spezialisiert ist. Diese Agentur hätte angeblich ohne weiteres Bin Laden auftreiben und für Bush an die Strippe bekommen können. Ihr letztes Kunststück bestand darin, die Tochter eines Vorstands von Canadian Pacific in Tanger aufzuspüren, einzig aufgrund der Information, dass sie die Sonne, den Sand und die Einsamkeit liebte. Sie hatte ihr Handy nicht dabei und keiner ihrer Freunde wusste, wo sie war. Die Agentur hat eine ganze Reihe Leute angerufen, um sie zu finden, darunter den Dalai Lama und den französischen Schriftsteller Jean-Marie Gustave Le Clézio. Diese Agentur hat auch in Rekordzeit alle Mitglieder des Verwaltungsrats vom Musée des Beaux Arts (die berühmte Siebenerbande) gefunden. Sie sind hocherfreut, wollen alle den Urlaub abbrechen, um Björk zu treffen. Die Managerin ruft Björk an: „Alles in Ordnung. Das Museum hält die Ausstellung für dich länger geöffnet.“
Welche Voodoo-Maler hast du gemeint, Björk? Die mit der Ausstellung nach Montreal kommen. Aber man geht doch hin, um sich die Gemälde anzuschauen und nicht die Maler. Klar, aber die Leute wollen auch nicht nur meine Musik hören, sie verlangen, dass ich selbst da bin und sie vor ihnen spiele. Sie wollen den Koch sehen, aus diesem Grund wimmelt es im Fernsehen so von Kochsendungen. Sie wollen gleichzeitig den Modeschöpfer, das Kleid und das Mädchen sehen, das es an ihrer Stelle trägt. Sie wollen alles sehen. Das ist übrigens dein Job. Du hast dafür zu sorgen, dass man mich zu sehen kriegt. Erzähl mir nicht, du wüsstest das nicht. Was glaubst du denn! Dieses Telefon ist mir schon am Ohr angewachsen. Schön – und ich will die Voodoo-Maler sehen. Ich will sie kennenlernen, jeden Einzelnen von ihnen. Also gut, wenn es sein muss. Du denkst vielleicht, das sei Spinnerei, dann hast du bei mir aber nichts verloren. Spinnerei? Seit ich für dich arbeite, gibt es für mich keinen Unterschied mehr zwischen Realität und dem Reich der Phantasie. Du lebst nämlich in einer Märchenwelt, Björk, für dich ist sie normal, solide und du kannst dich in ihr bewegen. Ich aber muss sie Leuten verkaufen, deren Realität es ist, acht Stunden in ein Büro eingesperrt, in Grau gekleidet zu sein und zu glauben, alles sei käuflich, sogar das Imaginäre. Ich muss ihnen erklären, dass deine Welt realer ist als ihre, dass sie sich vor dir verneigen müssen, weil du eine Eisprinzessin bist. Das weiß ich doch alles, besorge mir einfach die Maler. Das ist bestimmt nicht leicht, denn wenn sie so bedeutend sind, wie du sagst, ist es ihnen scheißegal, ob du eine isländische Prinzessin oder der Clown vom Cirque du Soleil bist. Du sollst nicht die Maler, sondern die Leute von der Museumsverwaltung überzeugen. Das ist allerdings kein Problem. Das klappt bestimmt, Björk. Wir bitten sie, die Ausstellung ein oder zwei Tage zu verlängern. Mal lieber zwei Tage, schnauzt die Tournee-Managerin von Björk in ihr Handy. Einverstanden. Björk liebt Sie bereits. Der Angerufene auf den Bermudas wird rot. Und seine Röte färbt Paris, Berlin, London, Rom, Mailand, Sydney – man weiß nie, wo Björk sich gerade aufhält. Das kleine Mädchen, das einst mit einer Voodoo-Göttin gespielt hat wie mit einer gewöhnlichen Puppe, und zwar mit Erzulie Dantor, der schrecklichsten von allen, verwechselt heute die Weltkarte mit ihrem Kleiderschrank. Sie lebt in einem Paralleluniversum, wo die Tage die Namen von Städten tragen. Sie heißen nicht mehr Dienstag, sondern Berlin, nicht mehr Donnerstag, sondern Mailand. Der Kurator ruft zurück. Es tut mir unendlich leid, die Voodoo-Maler sind nicht bereit, die Rückreise wegen Björk zu verschieben. Ja doch, wir haben es ihnen erklärt. Sie scheinen die Tragweite nicht zu erfassen. Björk ist entzückt. Sie hatte nichts anderes von ihnen erwartet. Melbourne wird abgesagt. Es ist übrigens nicht das erste Mal, dass ein Konzert von Björk in letzter Minute abgesagt wird. Auf der Karte von Björk gibt es Melbourne nicht mehr. Man kann sowohl Tage als auch Städte verschwinden lassen. Die Voodoo-Maler haben nicht auf Björk gewartet. Die meisten von ihnen sind ohnehin schon tot. Sie sind Stars. Sie haben sich in ein winziges Zimmer eingeschlossen, dort sitzen sie, essen salzlose Kost, schalten das Licht nicht ein und richten das Wort nur an das Personal. Das Museum hat ihnen zwar sieben Zimmer zur Verfügung gestellt, aber sie wollen sich nicht trennen. Eine kleine Gruppe Männer mit Hut in einer Ecke. Im Halbdunkel zeichnen sich ihre Silhouetten an der Wand ab. Einer von ihnen ist Dewitt Peters, ein Amerikaner aus Boston, Englischlehrer am Lycée Pétion von Port-au-Prince, der sie alle gleich nach seiner Ankunft in Haiti aufgestöbert hat. 1944 bereist er die Insel. Auf der Straße nach Saint Marc sieht er eine seltsam bemalte Tür: eine Schlange mit dem Kopf eines Mannes. Damballah! Er betritt den Hounfourt und findet die Wände von Malereien bedeckt, als hätte er die Tür zu einer anderen Welt geöffnet. Es ist das Universum des großen Meisters der Voodoo-Malerei, Hector Hyppolite. André Breton war damals irre vor Begeisterung. Die Welt der Träume, zum Anfassen. Daraufhin verkündet Dewitt Peters, er werde ein Kunstzentrum einrichten.
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