Bashô notiert:
Der alte Teich
Ein Frosch springt hinein –
ein Plop im Wasser .
Midori ist ein flacher Gegenstand mit so scharfen Kanten, dass sie einen Hals durchtrennen könnte und der Kopf fiele erst nach ein paar Sekunden. Eine Kette roter Perlen. Midori wetzt im Sarajewo ihre Waffen. Ich setzte mich in die dunkelste Ecke. Die Kellnerin kam erst nach einer halben Stunde. Grüner Tee. Das Café war immer noch leer. Plötzlich Joan Baez. Man sollte Joan Baez nur in einem Café wie dem Sarajewo hören. In einem solchen Laden könnte ich Joan Baez hören bis ans Ende meiner Tage. Danach kam Leonard Cohen mit Suzanne , das Lied beschreibt das Montreal der 70 er Jahre, zwischen Leidenschaft und Leichtigkeit. Ich kannte also bereits den Geschmack der Kellnerin – eine kleine Braunhaarige mit einem Ring in der Nase und lebhaften Augen. Ich kehrte zu Bashô zurück. Ich reise gerne, aber ich zögere vor dem Aufbruch. Wo soll ich hinfahren? Reisende kehren irgendwann zurück, sonst sind sie keine Reisenden. Am besten, man bleibt in seinem Zimmer und wartet auf ihre Rückkehr. Allmählich trudelten die Gäste ein. Sie setzten sich an den Rand. Die Mitte blieb leer. Die gerne im Zentrum stehen, würden später eintreffen. Wer nicht so früh kommt wie ich, denkt vielleicht, der Raum füllt sich in einer halben Stunde. Wer viel in kleinen Cafés verkehrt, weiß, es ist nicht so einfach, wie es aussieht. Die Gäste werden an den Fingern abgezählt. Die Kellnerin rief den Besitzer an und fragte, ob sie eine oder zwei weitere Bedienungen herbestellen sollte. Warum denn? Es sind schon fünfzehn Gäste da. Wie viele sind es normalerweise um diese Zeit? Sieben. Woran siehst du, dass es voll wird? Da ist auch ein Neuer, er hat einen grünen Tee bestellt. Grünen Tee, du meinst aus dem wird ein richtiger Gast? Bestimmt. Was meinst du also? Zwei weitere. In Ordnung, du bist schließlich vor Ort. Sie legte auf, dann drehte sie sich mit einem breiten Lächeln zu mir um. Ich wagte nicht, noch einen Tee zu bestellen, aus Angst, dass dann eine dritte Bedienung kommen müsste. Ich eilte zur Toilette. Alles schwarz, sogar die Kacheln. Ein echtes Boudoir. Die Aushänge sagen viel über die Kundschaft einer Kneipe aus. Sie zeigen ihren Geschmack. Es war eine Musikerkneipe. Die Aushänge erzählten alles. Neben einem Chorprogramm mit mittelalterlichen Liedern befand sich eine Adresse für Akupunktur bei Rückenschmerzen. Yogakurse. Eine Gruppenreise nach Indien zu diesem oder jenem Meister. Dazu verschiedene Poster von Midori. Dies war Midoris Zuhause. Was Charles de Gaulle für Air France, der Flughafen New York für American Airlines oder Rom für Alitalia, war das Café Sarajewo für Midori. Ein Poster zeigte sie nackt – aber verschwommen. Man sah sie nie deutlich. Schmaler Körper, gerade Hüften, keine Brüste. Ihr Geschlecht war glattrasiert. Stark gewölbt. Ich blieb lange vor Midoris Geschlecht stehen. Dann ging ich zurück. Der Saal war voll. Ein Boxring. Auftritte. Ein Mädchen, das auf Nina Hagen geschminkt war, räkelte sich vor der Kamera. Großes Durcheinander. Keine Grenze zwischen Zuschauerraum und Bühne. Ein einziges Beben. Ein Typ griff sich das Mikro und schwang eine Rede über den Ölpreis auf dem Weltmarkt. Ein anderer sprach über die Hungersnot in Afrika. Wir waren wieder in den 70ern mit ihren geistigen Höhenflügen. Einer wollte über das sensationelle Formel-1-Rennen an diesem Nachmittag reden. Er wurde zum Schweigen gebracht. Er konnte gerade noch brüllen, Ayrton Senna sei der beste Fahrer aller Zeiten. Da schrie die Mehrheit im Saal den Namen von Gilles Villeneuve, dem Sohn des Landes. Bühne und Saal waren nicht mehr zu unterscheiden. Eine Flut erhobener Arme, jeder forderte irgendwas. Das Double von Nina Hagen verlangte einen Kuss von der neben ihr Sitzenden, die ihrerseits aussah wie Suzanne Vega vor zwanzig Jahren. Die Welt der Doubles. Vega war in Begleitung. Der Typ schien zunächst beunruhigt, dann hocherfreut. Nina Hagen beugte sich zu ihr und küsste sie sanft auf das linke Auge. Der Saal war berührt, aber noch nicht befriedigt. Dann auf das rechte Auge – ebenso sachte. Wir hielten den Atem an. Das Phantasma der heterosexuellen Männer ist seit der Steinzeit unverändert. Nina Hagen grüßte in die Menge und machte Anstalten, sich hinzusetzen. Die Leute brüllten zum Protest. Hagen stand wieder auf, ließ sich aber viel Zeit. Sie hatte uns im Griff. Ein Kuss, das war nichts. Es kam nur auf die Bedeutung an, die man ihm gab. Das Double von Vega schien nun selbst das Warten beenden zu wollen. Aber Hagen hatte es nicht eilig. Wir wussten, es würde einen Kuss geben, aber wir wussten nicht, was danach kam. Der Typ an meinem Tisch kaute an den Fingernägeln. Hagen beugte sich hinunter und küsste Vega zuerst auf den Hals, dann auf die Augen. Jedes Mal schrie die Menge nach mehr. Hagen hielt jetzt den Kopf von Vega und schaute ihr tief in die Augen (man fragte sich, was die echte Nina Hagen und die echte Suzanne Vega gerade taten). Es war der längste Kuss im Sarajewo. Dieser Kuss dauerte, bis Vega sich wirklich geküsst fühlte, bis sie sich dessen vollkommen bewusst war. Sie riss die Augen auf, als die Zunge von Hagen ihre Zunge berührte. Der Blick von Nina Hagen war wütend und dominant. Der von Vega bettelnd und ergeben. Das war mehr als die Menge erwartet hatte. Während Hagen Vega küsste, hörte sie nicht auf, den Mann, der sie begleitete, anzuschauen. Bis er aufstand und hinausging. Die Menge sah ihm hinterher. Hagen küsste Vega immer noch, die als einzige das Weggehen ihres Freundes nicht bemerkt hatte. Nun war Hagen endlich bereit, von ihrem Opfer abzulassen. Es war zusammengesackt und schlief an ihrer Schulter. Schweigen im Saal. Der Mann kehrte zurück. Vega erwachte mit einem schelmischen Lächeln. Hagen grüßte in die Menge (die Kneipe war jetzt brechend voll). Das war Der Kuss , eine Produktion von Kuss Inc . Das Trio verließ die Kneipe unter dem Applaus der Gäste und den Blitzlichtern der Amateurfotografen. Die drei Kellnerinnen rannten in alle Richtungen.
Der Japaner vor dem Eiffelturm
Ich habe noch nie einen Fotoapparat besessen. Ich verstehe nämlich nicht genau, wozu man ihn braucht. Geht es um Fotos, die ich mir sowieso nicht ansehen werde, dann ist das eine unnötige Erfindung, denn ich habe schon einen, der sehr gut funktioniert. In meinem Schädel habe ich fünfzig Jahre lang Bilder gespeichert, von denen die meisten sich wiederholen, so dass sie das Gewebe meines Alltagslebens bilden. Es besteht aus lauter winzig kleinen, aufeinanderfolgenden Explosionen: ein elektrisiertes Leben. Man kann einwenden, diese Bilder gehörten nur mir und die anderen hätten keinen Zugang. Das stimmt nicht ganz, denn ich kann sie so genau beschreiben, dass sie am Ende vor ihren Augen vorbeiziehen. Besser noch, mir gelingt es, diese Bilder in Gefühle zu verwandeln. Ich kann einen Augenblick beschreiben, ohne die anwesenden Personen zu erwähnen, indem ich nur die Energie wiedergebe, die diesen Moment belebt. Auf einem Foto sieht man nur selten die Emotion, die den roten Faden der vor unseren Augen ablaufenden Geschichte bildet. Außer auf Geburtstagsfotos, wo man die gebannten Augen eines Kindes hinter den brennenden Kerzen erkennt. Sicherlich kann von einem vergilbten Foto manchmal ein nostalgischer Duft ausgehen, insbesondere wenn fast alle, die in das Objektiv schauen, bereits tot sind. Ich bewahre all diese Fotos in meinem Kopf auf, sie haben sich dort festgesetzt. Sie drängeln sich, jedes will im Vordergrund stehen. Bei dem Japaner, der unaufhörlich die Welt fotografiert, frage ich mich jedoch, sieht er sie überhaupt? Er sieht noch nicht einmal die beiden Motive richtig, die er fotografieren will: seinen Reisegefährten und die von ihm fast verdeckte Sehenswürdigkeit. Der Eiffelturm ist nur da, um zu zeigen, dass dieser Mensch eines Tages in Paris war. Aber wenn er dasselbe breite, unpersönliche Lächeln vor allen Sehenswürdigkeiten dieser Erde aufsetzt, vernichtet er das Erlebnis des Moments. Der Japaner wird dann genauso zeitlos wie der Eiffelturm. Man könnte denken, es ist der Eiffelturm, der sich hinter einem lächelnden Japaner fotografieren lässt.
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