Die Nacht ist ausgesprochen hell, Vollmond, klarer Himmel. Es ist 1.15 Uhr, die Zeit, die später im Kriegstagebuch der 2. Luftflotte eingetragen wird. Daneben der Satz: Funkverkehr mit »K7 + FK« reißt ab. Die Flughöhe beträgt zu diesem Zeitpunkt nur mehr 80 Meter. Das ist gut, denkt sich Ehlert, je tiefer wir sind, desto schneller sind wir über die Flakstellungen weg. Doch da hat er die Rechnung ohne die Russen gemacht. Plötzlich bekommt die Do 217 Geschützfeuer von hinten. Da die russischen Soldaten zu viel Zeit brauchen, um die tieffliegende deutsche Maschine direkt ins Visier zu bekommen, schießen sie einfach hinter Ehlert und seinen Kameraden her – und treffen. Zuerst bekommt der rechte Motor einen Volltreffer ab und beginnt sofort zu brennen. Dann ist es, als werde das ganze Flugzeug von einer gewaltigen Schrotflinte durchsiebt. Überall splittert Glas, und scharfe Metallteile segeln durch die Luft. Überall, wo Benzin ist, in den Tragflächen, in Schläuchen und Leitungen, brennt es jetzt lichterloh. Die Do 217 von Leutnant Gerhard Ehlert sieht aus wie ein Komet mit Feuerschweif.
Die Männer sitzen im Flugzeug wie Münchhausen auf seiner Kanonenkugel, die irgendwann den Zenit ihrer Flugbahn überschritten haben muss und danach unbarmherzig auf der Erde einschlagen wird. Für die russischen Kanoniere am Boden ist das ein schöner Anblick, für die deutsche Besatzung ein verzweifelter Überlebenskampf. Und als ob der ganze Feuerzauber nicht schon genug wäre, fährt den Männern in ihrem brennenden Sarg jetzt ein Schrei in die Ohren, der ihnen das Blut in den Adern gefrieren lässt. Der Professor ist getroffen. Ein Granatsplitter hat ihm das Gesicht aufgerissen, die Nickelbrille aus dem Gesicht geschlagen. Blutüberströmt ringt er nach Luft. Burr lässt sein Maschinengewehr sofort sinken und klettert zum Professor nach vorne. Der schreit immer noch um sein Leben. Mehr und mehr geht das Schreien in ein Röcheln über. Als Burr endlich bei Unteroffizier Williges eintrifft, sieht er sofort, dass dem Jungen nicht mehr zu helfen ist. Das scharfe Eisenteil der Granate hat die Halsschlagader verletzt. Der Professor blutet aus einer großen Wunde, kann nicht mehr sprechen, wimmert und röchelt und starrt seinen Kameraden, den Bordschützen Willi Burr, mit dem einen Auge, das unverletzt blieb, flehend an. Hilf mir, will es sagen, das heile Auge. Und dann sieht der Professor hinter einem Schleier aus Blut und Tränen das Gesicht von Burr, der sich über ihn beugt und ihm verzweifelt ein lächerlich kleines Verbandspäckchen auf die Schlagader presst. Im Gesicht seines Kameraden erkennt der Professor, dass er verloren ist, dass er sterben wird, hier und jetzt, über dieser gottverdammten Frontlinie in diesem gottverdammten Flieger, den es bald nicht mehr geben wird.
Burr kann sich nicht verstellen, kann dem tödlich getroffenen Kameraden keinen Mut zureden, ihm keinen Blick der Hoffnung schenken, selbst das kleinste Lächeln schmerzt ihn. Er will kein Lügner sein in Williges letzten Minuten. »Vater unser, der Du bist im Himmel.«
Burr betet ins Kehlkopfmikrofon hinein, und der Professor, dem die Granate die Kopfhörer und das Mikro abgerissen hat, muss es nicht hören, er kann es von Burrs Lippen ablesen. Dann hat der Sterbende so viel Blut verloren, dass er ohnmächtig wird. Er wird den Absturz nicht mehr miterleben. Und Williges Mutter wird sie wieder hören, die klare Fuge, wie beim Tod ihres Mannes. Jetzt hat sie auch noch ihren jüngsten Sohn verloren.
Burr weint verzweifelt, und die anderen beiden in der Maschine wissen, was passiert ist, ohne dass ihnen der Bordschütze Meldung machen muss. Der Bleistift in der Glaskuppel unter dem Sitz von Beobachter Hanns Schlotter hält eine Sekunde lang inne, als wolle er salutieren.
Wären ihm der gellende Todesschrei von Bordfunker Karl-Heinz Williges aus Gifhorn, genannt Professor, und das Weinen von Feldwebel Willi Burr nicht derartig in die Knochen gefahren, Ehlert hätte in aller Ruhe versucht, den Vogel aus der Schusslinie zu bringen. Aus der Sitzposition des Piloten, ganz vorne in der Do 217, sieht er nur den rechten Motor brennen. Nicht so schlimm, denkt er. Minutenlang weiß er nicht, in welch bedrohlicher Lage sich das ganze Flugzeug und seine Besatzung befinden. Solange wir fliegen, brauchen wir uns keine Sorgen machen, redet er sich ein. Doch dann huscht sein Blick über Höhen- und Geschwindigkeitsmesser. Schlagartig wird ihm klar, dass die Maschine kurz davor ist, auf dem Boden aufzuschlagen. Bestenfalls würde es eine unkontrollierte Bauchlandung geben. Die Überlebenschancen, das weiß der junge Pilot nur zu genau, wäre für alle in der Maschine bei Null. Für eine zweimotorige Maschine wie die ihre gibt es bei Nacht und an Land keine günstige Stelle für eine Bauchlandung. Kommt ein Acker, überschlägt sich das Flugzeug mit 300 Stundenkilometern. Da bleibt kein Teil am anderen heften, denkt sich Ehlert, der sich das noch schlimmere Szenario ausmalt, dann nämlich, wenn das Flugzeug mit 300 Sachen in einen Wald oder gegen ein Gebäude kracht. Beide Absturzvarianten wird keiner überleben, ahnt der Pilot, und Panik steigt in ihm auf. Wie lange wird es noch dauern? Zehn, dreißig oder gar noch hundert Sekunden? Jedenfalls nur Sekunden.
Gerhard beginnt, sein kurzes Leben zeitrafferartig an sich vorbeiziehen zu lassen, denkt an den Vater. Immer wieder der Vater. Ihm hat er es zu verdanken, dass er Soldat wurde. Ihm hat er es zu verdanken, dass er jetzt in dieser Todesmaschine sitzt. Der Vater, Albert Ehlert, geboren im August 1894, dessen Vorfahren ihr Leben lang einen Bauernhof bewirtschaftet hatten, war schlank und groß, hatte dunkle Haare und erlernte früh in Ueckermünde bei einem »Stadtpfeifer«, bei dem er auch wohnte, die Instrumente Geige und Tenorhorn. In dieser Zeit bereitete sich das alte Europa auf seinen ersten großen Krieg vor.
Wie Millionen andere wurde Albert Ehlert nach seiner Ausbildung 1913 in Stettin Soldat. Als Kriegsfreiwilliger nahm er am Weltkrieg gleich bei Kriegsbeginn teil. Kurzzeitig war er in Russland, sonst nur in Frankreich eingesetzt. Dort erlebte er das Grauen der Schlachten an der Somme, bei Verdun, am Winterberg und bei Reims. Seine Haare wurden grau. Das sahen Frau und Söhne bei seinem kurzen Fronturlaub 1916. Doch stellten sie keine Fragen. Albert gab sich verschlossen und schwieg. Außer über eine dramatische Begebenheit, einen Melderitt, bei dem sein Pferd durch neun Schüsse tödlich getroffen wurde, er aber unverletzt blieb, hatte er seinen Söhnen aus dem Krieg nichts zu erzählen. Auch blieb seine Anteilnahme am täglichen Geschehen auf ein Mindestmaß beschränkt. Es war, als habe er das zivile Leben verlernt. Trotzdem war der Urlaub schneller vorbei, als es den Söhnen lieb gewesen wäre.
Albert Ehlert wurde nie verwundet, zumindest erzählte er nie von einer Verwundung. Aber gerade sein Schweigen über den Krieg weckte die Neugier der Söhne. Das Schweigen, das eine ganze Generation von Weltkriegssoldaten befiel, würde der Keim sein für den nächsten, den schlimmsten Weltenbrand aller Zeiten. Die Söhne wussten es nicht besser, als sie von der Nazi-Propaganda in das nächste Schlachthaus getrieben werden sollten.
All das kommt dem jungen Piloten jetzt in den Sinn. Es ist, als habe er bereits stundenlang nachgedacht, als die Maschine für eine halbe Sekunde den Boden berührt, dann wieder leicht ansteigt. Gerhard verabschiedet sich ruhig von seiner Freundin Riele. Von ihr hat er einen Talisman, einen kleinen Elefanten aus Elfenbein, den er tagaus, tagein in der Uhrentasche seiner Hose mit sich führt. Er nimmt ihn in die rechte Hand, macht eine Faust um ihn herum, wie zum Schutz, stellt sich vor, wie die Russen Mühe haben werden, die tote Faust zu öffnen. Wenn er jetzt stirbt, will er etwas von Riele in den Händen halten, wenn er dann tot ist, will er es mit hinübernehmen.
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