Es hatte für Schaff „in einer völlig zweifelsfreien Zone“ gelegen, dass der 38-jährige Angeklagte und nicht sein 22-jähriger Stiefsohn der Fahrer des Fahrzeugs gewesen war.
„Dabei hätte gesunder Menschenverstand genügt, um zu erkennen, dass da ein junger Bursche abgebildet ist“, hatte sich der angeklagte Fahrzeughalter gewundert. „Man muss wohl Spezialist sein, um Äpfel und Birnen nicht unterscheiden zu können.“
„Ausdrücklich verteidigte (die in dem Verfahren zuständige) Richterin den vielgefragten – wenngleich umstrittenen – Gutachter Schaff, ‚dessen Vorgehensweise durch das Oberlandesgericht Frankfurt regelmäßig nicht beanstandet wird.‘“ (Zitat „Focus“)
Im Jahre 2002 sollte ich im Remscheider Knast in der WDR-Reihe „Menschen hautnah“ die Geschichte eines Mannes sehen, der 1991 in Nürnberg − aufgrund einer 100%igen wissenschaftlichen Identifikation durch den Sachverständigen Dr. C. Schaff − wegen Bankraubs mit Geiselnahme zu 8 Jahren Haft verurteilt worden war. Nachdem der Mann 8 Jahre unschuldig in der Zelle gesessen hatte (Er wurde nicht vorzeitig entlassen, da er nicht gestand, was er nicht getan hatte), stellte sich erst nach seiner Freilassung heraus, dass er nicht der Täter gewesen war.
Eine ähnliche Situation wie mit dem Gutachter Schaff erlebte ich in meinem Verfahren mit dem Gutachter Schalmer: Das Kölner Gericht, das sich in Beweisnot sah, beschloss ein weiteres Größengutachten einzuholen, und zwar durch den Sachverständigen Professor Dr. Schalmer, der Professor für experimentelle Rechtsmedizin an der Uni Bonn war. Schalmer betrieb außerdem ein privates anthropologisches Institut, in dessen Rahmen er regelmäßig Gerichtsgutachten erstellte. Prof. Dr. Schalmer hatte ein kompliziertes Computersimulationsverfahren entwickelt, für das er einerseits die überfallenen Banken aufsuchte und dort seine aufwendige Simulation durchführte. Andererseits mussten erneut Aufnahmen von mir mit Foto- und Videokamera aufgenommen werden. Was im zentralen Kölner Polizeipräsidium unter strenger Bewachung durchgeführt wurde.
Zum Ende des Jahres 1997 hatte der Sachverständige Schalmer sein von der Kammer sehnlichst erwartetes Größengutachten abgeschlossen. Er schickte es dem Gericht, meinen Anwälten und mir zu. Gleich zu Beginn des neuen Jahres 1998 trug Prof. Dr. Schalmer das umfangreiche Gutachten vor und versuchte es zu erläutern. Er tat es stockend, hölzern, sich im Reich der Worte sichtlich unwohl fühlend, die mit seinem verkomplizierenden Übereifer nicht Schritt halten konnten. Richter Schalter und seine beiden beisitzenden Richter versuchten den Ausführungen zu folgen, während die vier Amateurrichter schon nach den ersten Sätzen das Handtuch warfen und sich desorientiert im Gerichtssaal umschauten. Mein Staatsanwalt drehte sich immer mal wieder mit der Belustigung zu dem Gutachter an seiner Seite um, mit der ein Fachidiot einen anderen Fachidioten so wenig verstehen kann, wie er ihn verstehen will.
Meinen vom Fokus seines Siegeswillens offensichtlich geblendeten Vorsitzenden Richter Schalter schienen die Ausführungen des Prof. Dr. Schalmer, der mich anhand seiner komplizierten Computersimulation überführt sah, zu überzeugen. Er nickte befriedigt, während meine Verteidiger und ich amüsiert das Schalmersche Gestotter verfolgten. Wir hatten in der Analyse des ausführlichen schriftlichen Textes erkannt, dass das gesamte Gutachten auf Sand, sprich auf Unbekannten aufgebaut war und die auf Annahmen fußenden „empirischen“ Daten letztlich Scharlatanerie und problemlos zu zerpflücken waren.
Es folgte eine Meisterleistung des Kreuzverhörs durch meinen Anwalt Fuchs, der den Sachverständigen Schalmer behutsam ironisch durch sein Gutachtengebäude bis auf die Basisebene zu den Grundpfeilern führte, um vor unser aller Augen die gesamte Expertise über Schalmer langsam zusammenstürzen zu lassen. Schalmer stammelte auf die Fragen nach den Ausgangsdaten schlussendlich nur noch „Ich ging davon aus“, „Ich habe angenommen“, „Das war meine Annahme“, sodass selbst der gelangweilte Staatsanwalt nur noch belustigt den Kopf schüttelte.
Der Richter unterstützte nun erwartungsgemäß die von den Anwälten aufgeworfenen Fragen, und als der nun gänzlich in sich zusammengesunkene Gutachter Professor Doktor Schalmer, der schon so viele Angeklagte mit seinem berauschenden Verfahren überführt hatte, aus dem Gerichtssaal schlich, war das Gutachten ein verbranntes Beweismittel.
Auch dieser Fall zeigt, wie gefährlich in all seinen Konsequenzen ein unkontrolliertes Gutachten sein kann. In den Gerichtsverfahren, in denen das Schalmersche Gutachten zu einer Verurteilung geführt hatte, waren die verteidigenden Anwälte (und auch die Angeklagten) offensichtlich nicht in der Lage, die analytische Sorgfalt und Akribie aufzuwenden, um die Scharlatanerie des Schalmerschen Verfahrens entlarven zu können. Ich hatte bei meinem einmaligen Rendezvous mit der deutschen Justiz das Pech (wie das Glück), gleich mehreren gefährlich unfähigen Gutachtern ausgeliefert zu sein. Doch auch verantwortungsvolle, sorgfältig bemühte Gutachter, die hoffentlich in der Überzahl sind, sind nur Menschen, die Fehler machen können. Der gutachterlichen Entscheidungsmacht sollte grundsätzlich ein kontrollierendes Korrektiv zur Seite gestellt werden.
Das würde natürlich auch nur zu einer Chancenverbesserung führen, womit aber schon viel erreicht wäre. Bei der ganzen Begutachtung geht es immer nur um einen Wahrscheinlichkeitswert, wobei dem Rechtsprinzip der Verhältnismäßigkeit zu folgen ist. Wenn ein Delinquent zu 95 % als rückfallresistent gilt, so wird er aus der Haft entlassen werden, da das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu gelten hat und es keine 100%ige Sicherheit geben kann. Wird der Entlassene doch wieder straffällig, kann sich auch der Gutachter auf die herausgestellten 5 % berufen. Natürlich ist das nicht befriedigend, doch wenn man dem Verhältnismäßigkeitsgebot nicht folgt und sich auf ein einziges vages Verunglimpfungsgutachten beziehen kann, kommt es nicht nur zu Fällen wie meinem, sondern werden noch skandalösere Fehlentscheidungen wie im Fall des Gustl Mollath möglich, der entrechtet und völlig ungerechtfertigt für 7 ½ Jahre in der geschlossenen Psychiatrie verschwand.
Gerade bei psychologischen Gutachten ist der persönliche Ermessensspielraum so grenzenlos wie unüberprüfbar. Das zeigt sich auch daran, dass in den Fällen in denen zwei Gutachten von zwei voneinander unabhängigen Sachverständigen eingeholt wurden, jene manchmal zu völlig entgegengesetzten Ergebnissen kamen, sodass ein drittes Gutachten eingefordert werden musste, welches wiederum zu einem nochmals anderen Ergebnis kam („Drei Gutachter, vier Meinungen“). Häufig also ein Lotteriespiel, wie auch ein erfahrener deutscher Gefängnisdirektor feststellte, der formulierte, dass „die wissenschaftliche Forschung zur Aussagekraft der Gefährlichkeitsprognosen (…) darauf hindeuten, dass oft eine höhere Trefferquote erzielt werden könnte, wenn einfach eine Münze geworfen würde.“ (Thomas Galli, Die Schwere der Schuld) Der bekannte Kriminalprognostiker, Professor Rudolf Egg, erklärt dazu, dass die Wettervorhersage mehr Wahrscheinlichkeit aufweist als eine Kriminalprognose.
Warum wird dieses ganze im ehrwürdigen Mantel der Wissenschaftlichkeit daherkommende absurde Theater des Gutachterwesens der Gesellschaft als seriös verkauft? Zum einen hat der Staat ein Interesse an der Gutachterindustrie, da die Justiz sich in schwierigen Entscheidungen auf die Sachverständigenbewertung berufen und ihre Hände in Unschuld waschen kann, wenn sich eine Prognose letztlich als falsch erweist. Andererseits – wir leben in einer kapitalistischen Verwertungsgesellschaft und der Rubel muss rollen − hat sich mit der Gutachterindustrie ein lukrativer Geschäftszweig entwickelt, der dem Sachverständigenheer goldene Pfründe garantiert (Ein einziges Gutachten bringt dem „Sachverständigen“ Tausende von Euro ein. Das Schalmersche Gutachten in meinem Verfahren kostete 20.000 DM, die man mir, obwohl wir es als unwissenschaftliche Scharlatanerie entlarvt hatten, nach Abschluss des Prozesses in Rechnung stellte). Der Öffentlichkeit wiederum wird mit der Flut an fragwürdigen Therapievorgaben im Knast und den abschließenden Gutachterbewertungen eine Scheinsicherheit vorgegaukelt, die regelmäßig entlarvt wird, wenn ein angeblich erfolgreich therapierter vormaliger Straftäter im gleichen Segment wieder straffällig wird.
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