RAINER MARIA RILKE
(1875–1926) war nur ein äußerst kurzes Leben vergönnt, denn er starb gerade einmal einundfünfzigjährig an Leukämie. Umso beachtlicher ist der umfangreiche Nachlass, den er hinterließ und der neben zahlreichen Gedichtsammlungen auch dramatische Werke, Schriften zu Kunst und Literatur des 20. Jahrhunderts sowie einen umfangreichen Briefwechsel mit bedeutenden Denkern seiner Zeit umfasst.
»Teurer Rilke! […] Ich liebte in ihm den zartesten und geisterfülltesten Menschen dieser Welt, den Menschen, der am meisten heimgesucht war von all den wunderbaren Ängsten und allen Geheimnissen des Geistes.« Paul Valéry
Malte Laurids Brigge, Spross einer alten dänischen Adelsfamilie, lebt in den Tag hinein – bis seine Eltern sterben. Vor den Scherben seiner noch jungen Existenz fliehend, sucht er im schillernden Paris Schutz. Dort ist er mit dem hektischen Großstadtleben konfrontiert, dessen Sog ihn immer mehr in seinen Bann zieht. Gleichzeitig keimt Widerstand in ihm auf – er beginnt, sich auf sich selbst zu fokussieren und erkennt in der Erinnerung an seine Kindheit in adligem Hause sein wahres Ich wieder.
Es ist ein Sprung in die bodenlose Hektik des Pariser Alltags, den Malte Laurids Brigge nach dem Tod seiner adligen Eltern wagt. Die Schnelllebigkeit der Stadt, die vielen unterschiedlichen Menschen, die von Sekunde zu Sekunde wechselnden Eindrücke des berühmten Paris irritieren und locken ihn gleichermaßen, sich ihnen völlig hinzugeben. Doch er kann sein altes, verbummeltes Leben nicht hinter sich lassen. Während die Stadt ihn mit all ihren Versuchungen einzufangen und nicht mehr freizugeben versucht, entwickelt er über die Erinnerung an seine Kindheit wieder eine Nähe zu und ein Bewusstsein für sich selbst. Inmitten der Großstadt erlebt er so eine Wiedergeburt seines Ichs, verbunden mit der Chance, das Leben in den Griff zu kriegen und in allen seinen Facetten zu würdigen.
»Leise ist sein Werk gewachsen, schweigsam, wie immer das Große geschieht, im Abseits ist es entstanden, wie alles Vollendete geschieht.« Stefan Zweig
Rainer Maria Rilke
Die Aufzeichnungen des
Malte Laurids Brigge
Rainer Maria Rilke
Die Aufzeichnungen des
Malte Laurids Brigge
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Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2014
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DIE AUFZEICHNUNGEN
DES MALTE LAURIDS BRIGGE
11. September, Rue Toullier
Bibliothèque Nationale
Ein Briefentwurf
11. SEPTEMBER, RUE TOULLIER.
So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier. Ich bin ausgewesen. Ich habe gesehen: Hospitäler. Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und umsank. Die Leute versammelten sich um ihn, das ersparte mir den Rest. Ich habe eine schwangere Frau gesehen. Sie schob sich schwer an einer hohen, warmen Mauer entlang, nach der sie manchmal tastete, wie um sich zu überzeugen, ob sie noch da sei. Ja, sie war noch da. Dahinter? Ich suchte auf meinem Plan: Maison d’Accouchement. Gut. Man wird sie entbinden – man kann das. Weiter, rue Saint-Jacques, ein großes Gebäude mit einer Kuppel. Der Plan gab an Val-de-grâce, Hôspital militaire. Das brauchte ich eigentlich nicht zu wissen, aber es schadet nicht. Die Gasse begann von allen Seiten zu riechen. Es roch, soviel sich unterscheiden ließ, nach Jodoform, nach dem Fett von pommes frites, nach Angst. Alle Städte riechen im Sommer. Dann habe ich ein eigentümlich starblindes Haus gesehen, es war im Plan nicht zu finden, aber über der Tür stand noch ziemlich leserlich: Asyle de nuit. Neben dem Eingang waren die Preise. Ich habe sie gelesen. Es war nicht teuer.
Und sonst? ein Kind in einem stehenden Kinderwagen: es war dick, grünlich und hatte einen deutlichen Ausschlag auf der Stirn. Er heilte offenbar ab und tat nicht weh. Das Kind schlief, der Mund war offen, atmete Jodoform, pommes frites, Angst. Das war nun mal so. Die Hauptsache war, daß man lebte. Das war die Hauptsache.
Daß ich es nicht lassen kann, bei offenem Fenster zu schlafen. Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine Stube. Automobile gehen über mich hin. Eine Tür fällt zu. Irgendwo klirrt eine Scheibe herunter, ich höre ihre großen Scherben lachen, die kleinen Splitter kichern. Dann plötzlich dumpfer, eingeschlossener Lärm von der anderen Seite, innen im Hause. Jemand steigt die Treppe. Kommt, kommt unaufhörlich. Ist da, ist lange da, geht vorbei. Und wieder die Straße. Ein Mädchen kreischt: Ah tais-toi, je ne veux plus. Die Elektrische rennt ganz erregt heran, darüber fort, fort über alles. Jemand ruft. Leute laufen, überholen sich. Ein Hund bellt. Was für eine Erleichterung: ein Hund. Gegen Morgen kräht sogar ein Hahn, und das ist Wohltun ohne Grenzen. Dann schlafe ich plötzlich ein.
Das sind die Geräusche. Aber es gibt hier etwas, was furchtbarer ist: die Stille. Ich glaube, bei großen Bränden tritt manchmal so ein Augenblick äußerster Spannung ein, die Wasserstrahlen fallen ab, die Feuerwehrleute klettern nicht mehr, niemand rührt sich. Lautlos schiebt sich ein schwarzes Gesimse vor oben, und eine hohe Mauer, hinter welcher das Feuer auffährt, neigt sich, lautlos. Alles stellt und wartet mit hochgeschobenen Schultern, die Gesichter über die Augen zusammengezogen, auf den schrecklichen Schlag. So ist hier die Stille.
Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wußte. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.
Ich habe heute einen Brief geschrieben, dabei ist es mir aufgefallen, daß ich erst drei Wochen hier bin. Drei Wochen anderswo, auf dem Lande zum Beispiel, das konnte sein wie ein Tag, hier sind es Jahre. Ich will auch keinen Brief mehr schreiben. Wozu soll ich jemandem sagen, daß ich mich verändere? Wenn ich mich verändere, bleibe ich ja doch nicht der, der ich war, und bin ich etwas anderes als bisher, so ist klar, daß ich keine Bekannten habe. Und an fremde Leute, an Leute, die mich nicht kennen, kann ich unmöglich schreiben.
Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen – ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen.
Daß es mir zum Beispiel niemals zum Bewußtsein gekommen ist, wieviel Gesichter es giebt. Es giebt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere. Da sind Leute, die tragen ein Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf der Reise getragen hat. Das sind sparsame, einfache Leute; sie wechseln es nicht, sie lassen es nicht einmal reinigen. Es sei gut genug, behaupten sie, und wer kann ihnen das Gegenteil nachweisen? Nun fragt es sich freilich, da sie mehrere Gesichter haben, was tun sie mit den andern? Sie heben sie auf. Ihre Kinder sollen sie tragen. Aber es kommt auch vor, daß ihre Hunde damit ausgehen. Weshalb auch nicht? Gesicht ist Gesicht.
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