SELIM ÖZDOGAN
KRIMINALROMAN
Die Arbeit an diesem Roman wurde
gefördert durch ein Stipendium der
Kunststiftung NRW.
Edition Nautilus GmbH
Schützenstraße 49 a · D - 22761 Hamburg
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Alle Rechte vorbehalten · © Edition Nautilus 2019
Originalveröffentlichung · Erstausgabe September 2019
Umschlaggestaltung · Maja Bechert, Hamburg
Autorenportrait Seite 2: Philipp Hönig
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
1. Auflage · eISBN 978-3-96054-203-2
Sie sind Geschöpfe aus Dunst und Regen und Einsamkeit. Sie spielen Wasser und Traurigkeit in unsere Welt hinein. Sie sind Leute voller List und Bosheit und Sonnenschein und Musik und Stille .
Keri Hulme
a prisoner to these words, every sentence is life
Belly
Teil I I
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Teil II
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Danksagung
I
Abstand zu Menschen. Ich dachte, es würde helfen. Es hat geholfen, jahrelang hat es geholfen.
Und jetzt … Ich dachte, sie lügt. Was sollte das auch für eine Geschichte sein? Du hättest sie auch nicht geglaubt.
Ich erinnerte mich an die Nacht. Ich war bereits weggezogen aus Westmarkt, da war auch kein Blut an meinen Händen, aber niemand kam da sauber raus.
Ich saß in der Straßenbahn und Kamber stieg ein. Ich freute mich so, als ich ihn erkannte. Wir hatten uns lange nicht mehr gesehen. Es war so unwahrscheinlich, ihm so über den Weg zu laufen, es sah ihm nicht ähnlich, dass er Straßenbahn fuhr. Wir umarmten uns lange und als wir uns lösten, glänzten meine Augen wahrscheinlich, seine aber auch. Er war unterwegs zu Kerim und wir haben noch Paster abgeholt und sind dann zu viert losgezogen, ins Chronic, wo Dre lief, Gang Starr, Snoop, Geto Boys, R. Kelly, Wu-Tang, das Slim-Shady -Album war vor ein paar Monaten erschienen.
Ich war raus, ich war getrennt von Rahel, aber ich war raus. Und ich freute mich so, wieder drin zu sein und dabei. Hier war ich nicht der, der immer das beste Gras am Start hatte, hier war ich nicht der, der nicht studierte, hier war ich nicht der, der nur Hip-Hop hörte und sich mit den anderen Sachen nicht auskannte. Hier war ich einfach Nizar, zusammen mit Jungs, die meinen Rücken hatten, wenn es Schwierigkeiten gab. Und es gab früher oder später immer Schwierigkeiten, wenn man mit diesen Jungs zusammen war.
Ein paar Drinks, ein paar Joints, ein paar kleine Nasen und diese Musik, es ging mir gut. Irgendwann nach Mitternacht standen Kamber und ich vor den Toiletten, als sein Motorola klingelte, er ging ran, sagte einige Male Ja und dann: Bin gleich da.
– Geschäfte, sagte er zu mir. Ich muss los, wir sehen uns.
Wir umarmten uns, und erst nachdem er gegangen war, bändelte ich mit Ayleen an, Ayleen mit ihrer piepsigen Stimme und dem großen Hintern, den sie zur Musik bewegte. Am Ende der Nacht haben wir uns auf meinem Bett ausgezogen.
Ich kann mich an keine Abschiedsszene erinnern oder daran, dass wir Telefonnummern ausgetauscht hätten. Siebzehn Jahre lang habe ich nicht mit ihr geredet, nur hin und wieder etwas über sie gehört. Ich war weg. Weit, weit weg in derselben Stadt.
Und dann rief sie mich an und erzählte, dass wir einen gemeinsamen Sohn haben. Dass er bis vor kurzem geglaubt habe, ihr Mann sei sein Vater. Dass er die Schule schwänze, dass er nichts mehr erzähle, dass sie nicht wisse, mit wem er sich rumtrieb, dass er ständig Streit suche, vor allem mit seinem Stiefvater, dass sie Angst habe, dass einer von beiden gewalttätig werden würde, dass sie weder ein noch aus wisse und ihm deshalb die Wahrheit erzählt habe. Der Junge wisse nicht, wer er sei. Jemand müsse ihm helfen.
Natürlich habe ich das nicht geglaubt. Das hättest du auch nicht. Ich habe geglaubt, sie denkt, ich sei reich geworden. Ich habe gedacht, sie sieht irgendeinen Vorteil für sich. Ich weiß, wo sie herkommt, natürlich habe ich ihr nicht geglaubt.
Ich habe gedacht, ich hätte das irgendwie fühlen müssen, wenn ich einen Sohn habe. Ich war mir sicher, dass er nicht von mir ist. Erst das Testergebnis konnte mich überzeugen.
Abstand zu Menschen. Aber näher dran, als einen Sohn zu haben, kann man kaum sein. Einen Sohn. Da stand er mir gegenüber. Schwarze Jeans, eng an den Waden, Nike-T-Shirt, die Jordan 33 an den Füßen, Irie-daily-Kappe. Er konnte seine Unsicherheit überspielen, besser als ich.
– Sprich mit ihm, hatte Ayleen gesagt, es ist egal, was du sagst, wozu du ihm rätst. Ich will nur, dass er sich nicht mit Sami prügelt, dass es keine Gewalt gibt. Ich fand immer noch, dass er mir nicht ähnlich sah. Kein bisschen. Aber die Testergebnisse waren nicht gefälscht, so was hätte sie nicht hinbekommen. Er schien auch nicht so sehr nach Ayleen zu kommen, hatte nicht ihr rundes Gesicht, sondern ein hageres mit einem kantigen Kinn. Er sah gut aus, ich war mir sicher, dass jede Menge Mädchen und junge Frauen auf sein Aussehen reagierten.
Als wir uns die Hand gaben, machte er eine lockere, ausholende Bewegung aus der Schulter heraus, als seien wir Freunde, die sich schon lange kennen.
– Lesane, sagte er.
– Nizar, sagte ich.
– Warum treffen wir uns hier?
– Ich wollte dort rein.
Ich machte eine Kopfbewegung.
– Da? Wieso?
– Keine Ahnung. Neutraler Boden, dachte ich.
– Ein Café für Blondie-Omas? Die sind ja alle fast tot.
– Eben. Wir beide aber nicht. Lass uns reingehen.
Er ist unpünktlich, hatte Ayleen gesagt, aber ich hatte nur zehn Minuten auf ihn gewartet. Und ich hatte nicht geraucht, obwohl ich das erste Mal seit Jahren wieder daran gedacht hatte.
Als ich mich setzte, legte ich die Hände vor mir auf den Tisch. Verdammt, wie lange war das her, dass ich so nervös gewesen war? Wie schon oft in den letzten Tagen überlegte ich, wie ich in seinem Alter gewesen war. Wer war ich gewesen, als Regulate… G Funk Era erschien? Illmatic, Tical, Direkt aus Rödelheim, Murder Was the Case, Southernplayalisticadillacmuzik . Ich erinnerte mich an die Alben, ich erinnerte mich an die Freude, an die Stunden auf dem Platz, an die Möglichkeiten, die ich vor mir sah. Ich erinnerte mich, wie groß die Welt war und wie groß meine Träume. Aber ich erinnerte mich auch, wie ich mich in traurigen Zeilen wiedergefunden hatte, You don’t see what I see, every day as Warren G, you don’t hear what I hear but it’s so hard to live through these years . Wie viel Schmerz in der Freude und in den Möglichkeiten gewesen war. Ich erinnerte mich, wie ich mit Kamber Scheine gemacht hatte, um mir die neuen Jordans kaufen zu können, einen Spalding, eine PlayStation und was sonst nicht noch alles wichtig gewesen war.
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