SELIM ÖZDOGAN, geboren 1971 in Köln, zweisprachig aufgewachsen, Abitur, danach Studium der Völkerkunde, Philosophie und Anglistik, abgebrochen. Zahlreiche Jobs, Veröffentlichungen seit 1995. Sein Debütroman Es ist so einsam im Sattel, seit das Pferd tot ist wurde zum Kultbuch. Zuletzt erschien bei Edition Nautilus der Kriminalroman Der die Träume hört (2019). Selim Özdogan lebt in Köln.
SELIM ÖZDOGAN
DIE MUSIK AUF DEN DÄCHERN
ERZÄHLUNGEN
Die Arbeit an diesem Buch wurde gefördert durch ein Arbeitsstipendium des Landes Nordrhein-Westfalen.
Edition Nautilus GmbH
Schützenstraße 49 a
D - 22761 Hamburg
www.edition-nautilus.de
Alle Rechte vorbehalten
© Edition Nautilus GmbH 2021
Deutsche Erstausgabe September 2021
Umschlaggestaltung:
Maja Bechert
www.majabechert.de
Porträt des Autors Seite 2:
© Lucie Ella
1. Auflage
ISBN E-Book 978-3-96054-263-6
Every soul is like a minnow
Every mind is like a shark
Me, I’ve broken every window
But the house, the house is dark
Leonard Cohen
I was fresh from a war
but it was internal
J Hus
Alles fängt mit A an
In Gummistiefeln
Die Bibelwerkstatt
Drei Seiten
Das Kleid meiner Mutter
Ein geheimer Akkord
Was in dieser Musik geblieben ist
Vom Leben gezeichnet
Geschichte ohne Papier
Letzte Wünsche
Prüfung
Die Depressionen der anderen
Worauf wartest du
130 Kinder
Man trauert nur um sich selbst
Arabica Pacamara
Am Strand
Fitnessflüchtlinge
Nach der Seitenlinie
Herr Richter
Erdkunde
Sauber bleiben
Paket
Stimmt
Nicht die Ohren
Titelseite
Fuchs und Bass
Epilog
Wenn montags auf der Arbeit darüber geredet wird, was man am Wochenende so gemacht hat, sage ich nie, ich war mit Cenk im Park. Oder im Zoo. Oder auf dem Sofa. Ich sage nicht, ich habe mit Cenk Neocube gespielt, diese kleinen magnetischen Kugeln, die man zu verschiedenen Formen zusammenlegen kann. Ich sage nicht, ich habe mit Cenk gepuzzelt. Ich erzähle auf der Arbeit nicht von Cenk. Aber manchmal von Esra. Oder ich erzähle, wie ich früher die Wochenenden verbracht habe. Zu Hause. Dann hören die Kollegen meist interessiert zu. So wie ich lange Zeit Menschen zugehört habe, die schon mal das Meer gesehen hatten.
Als ich dann zum ersten Mal davorstand, hatte ich Angst. Ich wusste nicht, ob vor dem Wasser oder davor, dass diese Sehnsucht nun für immer verloren war. Zwei Jahre ist das nun her. Ich erzähle nie von Cenk, und nach dem Besuch von Herrn Olson werde ich das auch in Zukunft nicht tun. Obwohl mir das Erzählen vielleicht helfen könnte zu verstehen.
Es war Mittwoch. Mittwochs schauen Esra und ich immer zusammen Muhteşem Yüzyil , die Serie über das Leben Sultan Süleymans. Mindestens eine halbe Stunde bevor sie beginnt, gehe ich hoch, wir trinken Tee und reden. Tee erinnert mich immer an Geselligkeit, ich trinke ihn nie allein. Wenn ich allein bin, trinke ich Kaffee. Ohne Milch und ohne Zucker, ich mag ihn so, aber er ist kein Getränk zum Zusammensein.
An diesem Mittwoch war ich gerade erst von der Arbeit zurück, als Esra klingelte. Sie fragte mich, ob ich kurz hochkommen könne. Patrick sei da mit einem Mann, den sie nicht kenne. Patrick ist ein Schüler, er kommt zweimal die Woche und spielt mit Cenk, damit Cenk Deutsch lernt. Esra zahlt vier Euro pro Stunde und so ein Club reicher Menschen zahlt auch vier Euro, und so bekommt Patrick acht.
Als ich in Esras Küche kam, standen Patrick und der Mann auf und Patrick wollte mich vorstellen.
– Frau Martyna …, fing er an.
– Martynazova, half ich ihm.
– Frau Martynazova, das ist Herr Olson, unser Pate beim Rotary Club.
Wir gaben uns die Hand.
– Sehr erfreut, sagte Herr Olson.
– Ich habe ihm erzählt von Cenk und er wollte sich sein eigenes Bild machen, sagte Patrick.
– Frau Martynazova, sagte Herr Olson, während wir uns an den Küchentisch setzten, ich habe schon mit Frau Can über ihren Sohn gesprochen, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie alles verstanden hat. Deshalb habe ich sie gefragt, ob sie jemanden kennt, der für sie übersetzen kann.
Er sprach Esras Nachnamen Kan aus, nicht Dschan.
Während Herr Olson redete, nickte ich viel. Er klang ernst.
Esra sah mich an und ihr nickte ich auch zu.
– Ich werde mit ihr darüber sprechen, sagte ich schließlich.
Nachdem Herr Olson und Patrick gegangen waren, fragte Esra mich:
– Was wollen sie?
Sie musste es schon verstanden haben, aber sie wollte sich vergewissern.
– Sie wollen mit Cenk zu einem … ich weiß das Wort auf Türkisch nicht … zu einem Kinderarzt für den Kopf …
Mein Türkisch ist nicht besonders gut. Ich verstehe fast alles, vor allem seit ich in Deutschland bin und jeden Mittwoch gemeinsam mit Esra Muhteşem Yüzyil gucke. Aber wenn ich sprechen muss, bin ich langsam, ich mache Fehler oder finde die richtigen Worte nicht.
– Psychologe, sagte Esra.
Ich nickte.
– Warum?
– Weil er kein Deutsch spricht.
Patrick kommt jetzt seit über einem Jahr, seit acht Monaten geht Cenk in den Kindergarten, aber er sagt nicht mal ja oder nein auf Deutsch. Doch er versteht alles. Da bin ich mir sicher.
– Sein Großvater hat gar nicht gesprochen, bis er fünf war, sagte Esra. Die Menschen haben schon geglaubt, er sei stumm. Und Cenk spricht ja. Kann der Psychologe denn Türkisch?
– Es gibt einen in Düsseldorf, der Türkisch kann.
– Düsseldorf, sagte sie.
Ich nickte wieder.
Was sollte ich sagen? Dass sie Patrick dafür bezahlt, dass Cenk Deutsch lernt? Dass das wichtig ist in diesem Land? Dass mein Deutsch mir bei der Wohnungssuche nicht viel geholfen hat, wahrscheinlich weil der Name wichtiger ist als die Sprache? Parizoda Martynazova. Da ist Cenk Can einfacher. Sollte ich sagen, dass ich meinen Sohn auch nicht zu einem Psychologen schicken würde?
Wir haben Tee getrunken und Muhteşem Yüzyil geguckt. Es gibt eine Folge, in der man im Hintergrund ein Auto vorbeifahren sieht. Im 16. Jahrhundert. Es ist viel darüber gesprochen worden. Gewitzelt über den Erfindungsreichtum und die Macht der Osmanen. Darüber, dass solche Fehler nicht passieren dürfen, weil dann die ganze Serie der Lächerlichkeit preisgegeben wird.
Man kann das Auto nur sehen, wenn man genau hinguckt. Und so sind die Leute. Sie schauen genau hin. Sie suchen Fehler. Fehler sind wie Berge, man steht auf dem Gipfel seiner eigenen und redet über die der anderen.
Ich weiß nicht, warum Cenk zu einem Psychologen gehen sollte. Aber ich weiß auch nicht, warum er sich weigert, Deutsch zu sprechen.
Cenk gewinnt beim Memory gegen mich. Er kann aus den Kügelchen des Neocube einen Würfel basteln. Ich kann nichts vor ihm verstecken und er kann besser als ich mit meinem Smartphone umgehen. Cenk lacht nicht über mein Türkisch, er kann meinen Namen aussprechen, er merkt, wenn ich einen schlechten Tag auf der Arbeit hatte. Dann kommt er immer und kuschelt sich an mich, bevor wir anfangen zu spielen.
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