Ich bewundere Rollins bis zum heutigen Tag und ich habe ihm viel zu verdanken. Er hat mein Verständnis davon, was da auf der Bühne mit den Worten passiert, deutlich stärker geprägt als jeder Schriftsteller, den ich gehört habe.
Aber ich wollte nie so sein mit den Menschen, die zu mir kamen. Er vielleicht auch nicht. In einem seiner frühen Bücher schreibt er, wie er Fanpost beantwortet, beantworten muss, weil er sieht, wie das Blut aus den Umschlägen tropft.
Die Menschen kommen zu dir, weil sie dich bewundern, weil sie glauben, du wüsstest etwas, das sie nicht wissen. Ich wollte nicht abweisend sein, nicht kränkend, aber ich wollte mir auch keine Arbeit aufhalsen und mich länger mit diesen Texten befassen als notwendig.
Schick es mir, sagte ich immer, wenn mich einer nach einer Lesung ansprach, schick es mir, doch das beinhaltet die Gefahr, dass ich es lese und es meinen Geschmack nicht trifft. Mein Geschmack ist natürlich kein Qualitätsurteil, und ich begründe ihn auch nicht weiter. Doch wenn es mir gefällt, tue ich, was immer ich für dich tun kann.
Das war nicht gelogen. Es passierte nur so selten, dass mir ein Text gefiel. Doch wenn mir der Text gefiel, tat ich alles, was in meiner Macht stand, damit er mehr Leser fand. Was in der Regel nicht viel war. Aber immerhin hat es einem Kollegen seinen ersten Buchvertrag eingebracht. Einem anderen den Abdruck einer Kurzgeschichte in einer Anthologie. Was ein Start hätte sein können in eine Schriftstellerlaufbahn, doch er hat es vorgezogen, Lehrer zu werden, weil es ihm zum Schreiben zu gut ging, wie er sagte.
Ich habe etwas gelernt. Ich kann diese Leute von Weitem erkennen, an ihrer Körperhaltung, an ihrem Gesichtsausdruck, an ihrer Nervosität oder spätestens daran, dass sie warten, bis die anderen verschwunden sind, bis alle Bücher signiert sind, alle Gespräche beendet, und sie mich einen Augenblick lang ganz für sich allein haben. Und meistens konnte ich auch sehen, dass der Text mir nicht gefallen würde.
Ich glaubte, ich wüsste was. Ich hätte etwas verstanden.
Arbër kannte ich nicht, weil er schrieb, sondern weil er sich viel herumtrieb. Jeder im Viertel kannte Arbër. Er stand im Kiosk und redete, er stand im Imbiss und redete, er stand vor dem Handyladen, vor der Eisdiele, meist erst ab Mittag. Abends trieb er sich noch viel mehr herum, aber das bekam ich nicht mit, weil ich nur noch selten abends wegging.
Arbër war Ende zwanzig, er hatte gekellnert, Pakete ausgefahren, Regale aufgefüllt, hatte an einer Supermarktkasse gesessen, hatte beim angesagten Biobäcker im Viertel bedient, weil die ihn charmant fanden. Aber sie konnten nicht damit umgehen, dass er häufig fünf Minuten zu spät kam.
Irgendeine Arbeit fand sich immer, aber er blieb nie lange. Er mochte es, draußen zu sein und mit Menschen zu reden. Wenn ihm zwei, drei, vier Leute zuhörten, während er in einen Monolog verfiel, war das Glück für ihn. Wie schön, dass wir hier stehen und reden können.
Er war auch ein guter Zuhörer, ein verdammt guter. Vielleicht noch viel besser als ich, der sich immer Stoff für eine Geschichte erhofft. Er konnte sich stets an Details erinnern, die man ihm vor Monaten erzählt hatte.
Meistens war Arbër gut gelaunt und er hatte ein Talent, seine Laune auch auf andere zu übertragen. Wenn man zehn Minuten mit ihm an einer Straßenecke gestanden hatte, erschien das Leben hinterher meist leichter.
– Wie machst du das eigentlich?, fragte er einmal. Du sitzt jeden Tag allein da und schreibst?
– Ja.
Er schüttelte den Kopf.
– Respekt, sagte er. Ich habe noch nie was von dir gelesen, aber Respekt, abi. Wenn meine Mutter nicht da ist, mache ich immer den Fernseher an, damit ich mich nicht allein fühle.
Er wohnte mit seiner Mutter in einer Dreizimmerwohnung in einer Straße, in der die Mieten noch nicht gestiegen waren. In seinem Zimmer standen immer leere Bier- und Weinflaschen und auf dem Couchtisch lag immer alles, was man brauchte, um einen Joint zu drehen. Manchmal gab es auch Schnelles daneben.
Seine Mutter freute sich, wenn jemand kam, nie schien es ihr zu viel zu werden und immer gab es Gebäck oder Süßkram, oft presste sie Orangensaft für uns. Sie konnte wenig Deutsch, aber sie kannte alle Namen von denen, die öfter als einmal bei ihr gewesen waren. Auch Jahre später noch.
Es war dann nicht mal Arbër selbst, der mir erzählte, dass er einen Roman schrieb. Es war der Betreiber vom Kiosk gegenüber der Zoo-Bar.
– Hast du schon gehört, Arbër schreibt ein Buch.
– Echt? Worüber denn?
– Über Gott und die Welt, kennst ihn doch.
Ich kannte ihn, ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er keinen Roman schreiben würde.
Doch ab diesem Tag erzählten mir die unterschiedlichsten Leute, dass Arbër an einem Roman arbeitete. Der wird schon wissen, warum er ausgerechnet mir nichts davon erzählt, dachte ich.
Ich kannte das von Romananfängen, die mir Menschen zum Lesen gaben und die mir sogar gefielen, aber dann war der Mensch nicht in der Lage, den Roman auch zu Ende zu bringen. Es mangelte ihm an Durchhaltevermögen, an Kraft, an Konzentration, an Disziplin, was auch immer.
Als ich an einem Nachmittag eine Szene zum fünften Mal umgeschrieben hatte und sie mir immer noch nicht gefiel, gab ich auf, ging raus, eine Runde drehen. Arbër stand vor Aris Kiosk, und ich konnte eine Portion gute Laune gebrauchen.
Eine halbe Stunde später saßen wir bei ihm, er hatte kein Gras einstecken gehabt und wir hatten beide Lust zu rauchen.
– Arbër, die Leute erzählen, du würdest an einem Roman arbeiten, sagte ich, während er baute. Vielleicht, weil ich immer noch schlechte Laune hatte und ihn ein wenig in Verlegenheit bringen wollte.
– Das stimmt, abi, sagte er. Es war Stolz in seiner Stimme. Nicht, dass ich dir Konkurrenz machen möchte, abi, schob er hinterher.
Er sagte immer abi zu mir, was auf Türkisch großer Bruder heißt. Immerhin war ich über zwanzig Jahre älter als er.
– Worüber schreibst du denn?
– Über das Viertel, über die Leute hier, über mein Leben.
– Hast du denn schon etwas, was man lesen kann?
– Ja.
– Darf ich mal sehen?
– Klar.
Er drehte inside out. Die Klebekante lag außen, er leckte an der Stelle, an der er das Blättchen über die Klebekante gelegt hatte, und verbrannte dann den überstehenden Teil, legte den Joint auf den Tisch, stand auf und stellte sich neben den Teppich, auf dem der Couchtisch stand. Er bückte sich runter, hob eine Ecke des Teppichs und zog drei Blätter hervor, die er mir grinsend gab.
Drei Blätter, weiß, unliniert und beidseitig eng mit Kuli beschrieben. Also bestenfalls sieben oder acht Buchseiten. Und ich kannte ihn. Vergiss es, dachte ich, vergiss es, das wird nie was. Aber ist ja nicht schlimm, muss ja nicht jeder ein Schriftsteller werden.
Dieses Bild, wie er vom Teppich runtergeht, wie er sich bückt, wie er diese drei Blätter hervorholt. Ich habe es oft vor mir gesehen, wenn ich an Arbër gedacht habe.
Ich überflog die Seiten, sie schienen mir gut geschrieben, aber ich glaubte nicht, dass daraus ein Buch werden würde.
Es war nicht so, dass ich Arbër in nächster Zeit weniger häufig in den Straßen des Viertels gesehen hätte. Monatelang dachte ich nicht mehr an diese drei Seiten. Ich fragte Arbër auch nie, wie es mit dem Schreiben lief, weil ich ihm ersparen wollte, mir zu erzählen, dass es immer noch nicht mehr war als diese drei Seiten.
Es war etwas mehr als ein Jahr später, als er mir erzählte, dass er jetzt einen Vertrag unterschrieben hatte, bei einem angesehenen Verlag, dessen Programmleiterin er eines Abends im Rosenfeld beim Cocktail kennengelernt hatte.
Ich beglückwünschte ihn und bot ihm Hilfe an, falls er welche brauchen sollte. Ein Angebot, auf das er nie zurückkam und das mir peinlich wurde, während die Dinge sich weiterentwickelten.
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