In der nächsten halben Stunde schwiegen wir. Schließlich waren alle Sonnenblumen, die wir im Frühling in Gummistiefeln in Übergröße gepflanzt hatten, im Transporter. Da ich keinen Führerschein hatte, setzte sich Dani ans Steuer und wir fuhren los.
Ihr glaubt jetzt vielleicht, dass ich einfach nicht weiß, wann genug ist, aber so ist es nicht.
– Es wird so viel Geld in die Raumfahrt gesteckt, sagte ich, da muss doch was dran sein. Glaubst du wirklich, dass die Erde von rund zehn Trillionen Planeten der einzige ist, auf dem es Leben gibt?
– Nein, sagte sie. Ich glaube nur nicht, dass die anderen sich für uns interessieren. Oder dass wir uns für sie interessieren sollten. Wir haben hier eindeutig wichtigere Probleme.
– Auf der Venus zum Beispiel gibt es ja, fing ich an, doch Dani unterbrach mich wieder.
– Auf der Venus, Alter, auf der Venus ist es viel zu heiß für irgendetwas. Hältste mich für blöd, oder was? Auf der Venus hat es mehr als vierhundert Grad, da lebt gar nix.
– Unsere Fantasie reicht vielleicht nicht aus, gab ich zu bedenken. Wir stellen uns Leben immer so ähnlich vor wie unseres. Nicht wie schwingende, entkörperte Wesenheiten, die sich von Hitze ernähren, weil Hitze ja Energie ist. Könnte doch sein, oder? Die DNS ist nicht die einzige Form von belebter Information. Vielleicht sind da Energiewellen mit Bewusstsein, die mit Leichtigkeit Millionen von Kilometern zurücklegen und sich bei Bedarf materialisieren können. Und die genau wie viele frühe Kulturen die Sonne anbeten. Die auch ein Interesse haben, das Hakenkreuz zu entnazifizieren. Eher so spielerisch-kreatives Interesse als ein ideologisch-ästhetisches.
In der Stadt waren wie erwartet kaum Menschen auf den Straßen. Sonntagnacht, Montagmorgen. Dani nahm ihr Telefon und benachrichtigte die anderen über einen vereinbarten Code. Dann schaute sie mich an.
– Du meinst, diese Aktion ist eigentlich gar nicht unsere, sondern die von Venusbewohnern?
– So stark würde ich es nicht simplifizieren, sagte ich.
– Wir wollen den Rechten dieses Symbol nicht mehr überlassen. Wir wollen uns nicht mehr mit ihnen auf Demos prügeln. Wir wollen dem Gegner Boden entreißen, wir haben lange genug über das alles diskutiert, und jetzt faselst du auf einmal die halbe Nacht von Außerirdischen. Ist bei dir eigentlich noch alles klar?
– Ja. Glaube schon, fügte ich nach einer Pause hinzu.
Ich hatte sie für intelligenter gehalten. Sie bremste ab und fuhr nun rückwärts in die enge Gasse, die auf den Rathausplatz führte. Noch bevor der Motor aus war, standen unsere Leute bereit.
Die Bleiplatten lagen schon auf dem Platz, wir fuhren die Ladefläche auf halbe Höhe herunter, jeder Handgriff saß, war häufig genug besprochen worden. Es war, als hätten wir einen Tanz choreografiert. Innerhalb von vier Minuten standen 750 Sonnenblumen, die meisten von der Sorte Ring of Fire, in Gummistiefeln in Größe 52 auf Bleiplatten festgeklebt auf dem Rathausplatz. Eine weitere Minute später hatten wir auch den Stacheldrahtzaun um die Hakenkreuzform gezogen, die wir mit den Gummistiefeln gelegt hatten. Die Helfer verschwanden. Fast zeitgleich ging eine anonyme Mitteilung an die Presse raus, am Horizont zeigte sich das erste zarte Grau, das sich noch nicht entscheiden konnte, rot zu werden.
Dani grinste, die Selbstgedrehte zwischen den Lippen, als sie den Motor anließ.
– Findest du es nicht komisch, dass man Zweifel säen möchte, aber selbst nicht zweifelt?, fragte ich.
Jetzt war sie genervt, als hätte die gelungene Aktion eine Art Schutzpanzer entfernt. Sie schnaubte, hob an, etwas zu sagen, schwieg dann aber grimmig.
Ich widerstand der Versuchung. Als sie an einer Ampel hielt, stieg ich aus. Ich wartete, bis der Transporter außer Sichtweite war. Dann sah ich mich um. Keine Zeugen. Ich löste den Körper auf, ich brauchte ihn nicht mehr.
Hillalum wusste nicht, ob er gekommen war, um zu klagen, um anzuklagen oder um Trost zu finden.
Drei Jahre waren vergangen, seit sein Sohn gestorben war, ein Jahr, seit seine Frau ihn verlassen hatte, ein Monat, seit sein Vater erst seine Mutter und dann sich selbst getötet hatte.
Warum?, fragte er. Warum ich? Was habe ich getan? Wie oft habe ich Zuflucht gesucht bei Dir, aber Du hast sie mir nicht gewährt. Einen Menschen nach dem anderen hast Du mir genommen. Sieh, ich bin allein und völlig hilflos. Was willst Du von mir? Was?
Er fragte sich, ob es Hoffnung war, die ihn zur Gottmaschine gebracht hatte, oder Verzweiflung. Vierzehn Tage Fußmarsch hatte er hinter sich, vierzehn Tage, in denen er immer wieder fortgejagt worden war, wenn er um Essen gebeten hatte. Man hatte ihn für einen Vagabunden gehalten, für einen Dieb, für einen Bettler. Vierzehn Tage hatte er sich von dem ernährt, was er in den Abfällen gefunden hatte, und von den Beeren und Wurzeln im Wald. Zwei Tage war er danach angestanden, um Einlass in die Maschine zu erhalten. Zwei Tage, in denen er mit keinem der übrigen Wartenden gesprochen hatte. Wir sind gleich, hatte Hillalum gedacht, doch es hilft nicht, ich bin getrennt von ihnen. Das Leid verbindet uns nicht.
Als er schließlich die Gottmaschine betrat, sank er auf die Knie.
Zunächst sollen die Menschen es Bibelwerkstatt genannt haben, doch heute hieß das Ladenlokal nur noch Gottmaschine. Vor der Bibelwerkstatt soll ein Schuster darin gewesen sein, doch das ist so lange her, dass niemand mehr lebt, dessen Eltern sich daran hätten erinnern können. Nach dem Tod des Schusters hatte ein Schreiber, dessen Name nicht erhalten ist, den Laden übernommen. So wie Luther die Bibel in die Sprache des Volkes übersetzt hatte, übersetzte dieser Bibelschreiber sie in die Sprache seiner Kunden.
Der Bibelschreiber hatte einen Blick für das feine Spitzenwerk der Seele, hieß es. Er setzte sich mit seinem Kunden hin und plauderte. Niemand kam sich ausgefragt vor, niemand hatte das Gefühl, der Bibelschreiber fühle ihm auf den Zahn oder trachte nach seinen Geheimnissen.
Der Bibelschreiber hörte die Sehnsucht der Menschen, die Sehnsucht nach Gott, nach Sinn, nach Frieden, nach Gerechtigkeit. Er hörte in ihren Worten das Leid, den Tod, den Verlust, die Verzweiflung, die Angst. Er hörte ihre Verlorenheit in diesem Tunnel aus Zeit, in dem sie kein Licht erkennen konnten. Er hörte, wie sie glaubten, alles würde sich fügen, wenn sie nur Gott fänden, wenn der Mann nicht mehr trinken würde und anfinge zu arbeiten, wenn die Kinder aufhörten, ins Verderben zu rennen, und der Hunger keinen Platz mehr hätte im Heim.
Er hörte, wie sie von einer Stimme gerufen wurden. Sie wurden gerufen, deswegen kamen sie zu ihm, aber sie kamen auch, weil sie sich mehr erhofften als nur diese Stimme.
Sie wollten dieses Leben meistern, als wäre es ein Handwerk, das man erlernen könnte. Er hörte sie alle, wenn sie auf der Holzbank saßen: breitbeinig, zurückgelehnt, gestikulierend, schüchtern, verängstigt, wütend. Anklagend, erschöpft, bewegungslos, herausfordernd, weinend, lachend, fluchend, Trost suchend. Er hörte sie alle, als sei er das Ohr Gottes.
Und wenn sie gegangen waren, setzte er sich an den Tisch und schrieb. Er schrieb das heilige Buch in einer Sprache, die jene Saite im Menschen zum Klingen brachte, die ihn mit Gott verband. Er fand die geheime Melodie in den Wörtern und Sätzen, die auch den größten Zweifler unter ihnen berührte und ihn die Gegenwart einer Kraft spüren ließ, die schon immer da gewesen war.
Die Bibel konnte das Chaos nicht entwirren, denn dann hätte sich die Welt geändert. Sie lieferte keine Antworten, und sie erlaubte nicht, sich in ihr vor der Welt zu verstecken. Wer es versuchte, wurde Wort für Wort gefunden.
Der Bibelschreiber bot keine Lösung, sondern Licht. Ein Licht aus Worten, die so fein gewählt waren, deren Klang so genau auf den Hörer abgestimmt war, dass sie ihren Weg ins Herz fanden.
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