Dagmar Gaßdorf
Roman
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Impressum
1. Auflage April 2020
Umschlaggestaltung: Ina Zimmermann
Lektorat: Stefanie Döring, Hans-Joachim Pagel
Satz und Gestaltung: Achim Nöllenheidt
Umschlagbild: Jochen Renz, Essen
Birkstraße 10, 25917 Leck
ISBN 978-3-8375-2220-4
eISBN 978-3-8375-2323-2
© Klartext Verlag, Essen 2020
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Für Phoebe
Die Kommunion
Schillers Schule
Der Freund
Das Studium
Die eigene Wohnung
Splendid isolation
Die Gelbsucht
Osterglocken
Der weiße Sarg
Der Bruch
Neuland
Jordbær med Fløde
Stoff geben
Die Koffer
Die Überraschung
Angekommen
Blau
Die Ochsentour
Start up
Zum Vergnügen
Erfolg
Die weiße Villa
Auszeit
Millennium
Fürs Leben
Intensiv
Danke
Das Weite
Der Sturz
Neues Leben
Nachwort
Menschen hören nicht auf, Träume zu
verfolgen, weil sie alt werden; sie werden
alt, weil sie aufhören, Träume zu verfolgen.
Gabriel García Márquez
„Ich krieg ein Perlo-Pettiko.“ Es gibt Sätze, die lange vergangene Szenarien auf einen Schlag lebendig werden lassen. Für Barbara war dies so ein Satz. Die Erinnerung an ihn war verbunden mit der sich leicht überschlagenden Stimme von Monika, die von ihrem Kleid für ein Ereignis sprach, das sie ihre „Kommion“ nannte, das aber offiziell „Erste Heilige Kommunion“ hieß. Monika wohnte in einem der hölzernen Behelfshäuser am Weg zur gemeinsamen Volksschule. Warum die Siedlung „Bukowina“ genannt wurde, wusste Barbara nicht; aber sie freute sich über dieses erstaunlich melodische Wort für ein Ambiente, in dem ein Kamm mit Haaren auf dem Esstisch lag.
Ihr eigener Vorname gefiel Barbara nicht sonderlich. Gegen die Heilige der Bergleute konnte man zwar prinzipiell nichts haben, nachdem einer ihrer Großväter „unter Tage“ gewesen war; aber die banale Phonetik musste man nicht mögen. Wenn irgendwo auf der Welt ein Kind seine ersten Wörter brabbelt, klingt das immer wie mama oder baba oder so ähnlich. Die Bildung von Verschlusslauten mit beiden Lippen, die beim Öffnen nach dem Saugen an der Brust fast automatisch einer Art „a“ Platz machten, war vermutlich die simpelste aller Lautbildungen.
Barbara hatte einen Sinn für so etwas, und es wundert einen nicht, mit welchem Vergnügen sie später lernen sollte, dass es genau diese Lippen-Verschlusslaute sind, die in allen Sprachen der Welt vorkommen und von allen Kindern als erste gelernt werden und die allen Menschen, die ihre Sprache verlieren, als letzte verbleiben.
Der Bergbau-Opa, der in seinem Leben vermutlich am wenigsten damit gehadert hatte, wie er getauft worden war, Hinrich nämlich, war aus dem hohen Norden an die Ruhr gekommen: aus Husum. Innerhalb der westfälisch-katholischen Verwandtschaft war er vermutlich der einzige, dem die Heilige Barbara und alle anderen Heiligen und die gesamte praktizierte Frömmigkeit egal waren. Zur Kirche ging er jedenfalls nicht. Ob die Urgroßmutter, die nach den Erzählungen von Barbaras Mutter einen Hausaltar in ihrem Schlafzimmer hatte, an dem sie bei Gewitter Kerzen anzündete, den Schwiegersohn aus der grauen Stadt am grauen Meer gutgeheißen hatte? Darüber war in der Familie nie geredet worden. Das war tabu.
Ein merkwürdiges Wort, dachte Barbara. Mit seiner Betonung auf der zweiten Silbe stellte es sich quer zum Sprachfluss des Deutschen. Hätte man damals schon googeln können, hätte sie es getan und dabei gefunden, dass ein Seefahrer aus Thomas Cooks Team es im 18. Jahrhundert aus Polynesien importiert hatte, wo die Leute etwas, was heilig und unberührbar ist, als „tapu“ bezeichnen. Das konnte für Orte gelten, die man nicht betreten darf, aber auch für Sachen, die man nicht essen darf. Eigentlich auch nicht anders als Fleisch, das am Freitag verboten war, fand Barbara, in deren Familie es dank dieser katholischen Marotte wenigstens einmal in der Woche das gab, was heute sowieso als gesünder gilt: Fisch.
Kuriose Wörter für kuriose Sachen faszinierten sie. Und das hier war kurios! Man wusste schließlich nicht, woher die Tabuverbote kamen und warum es sie gab, aber dass die, die sie befolgten, sie für selbstverständlich hielten. Es machte daher gar keinen Sinn zu fragen, warum denn der eher heidnisch wirkende Opa in eine Familie einheiraten durfte, die nach den Worten einer späteren Freundin von Barbara „Weihwasser pinkelte“.
Man wusste überhaupt wenig über den Nordmann mit dem kantigen Kopf, denn er sprach wenig. Man fragte sich auch, was seine für eine Westfälin verblüffend lebensfrohe, rundliche, kleine Frau mit den Silberlöckchen an ihm gefunden hatte. Tatsache war, dass er es schweigend hinnahm, wenn sie zu Ostern, Pfingsten und Weihnachten die gesamte Großfamilie bis hin zu den Verlobten der Enkelkinder in ihrer dafür eigentlich viel zu kleinen Wohnung versammelte und, von ihren Töchtern unterstützt, bekochte. Nur so viel stand fest: Nie wieder in ihrem späteren Leben, auch nicht bei so genannten Sterneköchen, sollte Barbara eine so traumhafte Rindfleischsuppe mit Eierstich und Markklößchen genießen und eine Bratensoße, für die man sogar den butterzarten Braten hätte stehen lassen. Tatsache war auch, dass der Opa es nicht merkte, wenn seine Frau ihn austrickste oder – wie Barbaras Mutter es konspirativer ausdrückte – „zu nehmen wusste“.
Wenn man im Ruhrgebiet chronisch krank ist, hat es man immer „an“ irgendetwas. Und dieser Opa hatte es „am Magen“. Er legte deshalb Wert darauf, keine Butter, sondern Margarine zu essen. Der Oma, für die „gute Butter“ getreu dem berühmten Kochbuch der Westfälin Henriette Davidis mit dem Titel „Man nehme“ für schmackhafte Speisen der unübertroffene Geschmacksträger war, passierte es schon einmal, dass sie, wenn sie anlässlich von deren „großer Wäsche“ zusammen mit ihrem Mann die Tochter Hildegard besuchte, um auf deren Kinder aufzupassen, die Margarine vergaß. Denn auf die Idee, seine Sachen selbst zu packen, wäre zu jener Zeit kein Ehemann gekommen; das galt als Frauensache. Tochter Hildegard kaufte aber keine Margarine. Sie schmeckte ihr nicht, und sie mochte auch keine bunten Becher auf dem Tisch; aus dem Becher heraus bekam man die Margarine aber nicht ohne Verlust. Die Oma dachte aber gar nicht daran, die Enkel zum Konsum zu schicken, um Margarine zu kaufen, wenn doch Butter im Hause war. Sie nahm vielmehr die Butter, ließ sie etwas weich werden und strich sie, die Enkel zu strengstem Schweigen verpflichtend, in ein Plastikgefäß mit Deckel, das von der Form her einem Margarinebecher glich. Der Opa hat es nicht bemerkt; aber die Enkelkinder hatten einen „Heidenspaß“, wie die Oma das nannte – ein Wort, von dem zu vermuten steht, dass es inzwischen genauso verboten ist wie der Negerkuss und der Sarotti-Mohr.
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