Als die zehnjährige Barbara den Christbaum schmückte, musste sie solche schlimmen Gedanken noch nicht haben. Der schlimmste war noch, dass der Baum, so schön er sein mochte, bis Maria Lichtmess das ohnehin nicht allzu große Wohnzimmer der Brinkmanns beengen würde – zusammen mit der elektrischen Eisenbahn des Bruders, zu der sich aber in Wahrheit Vater Brinkmann jedes Jahr zu Weihnachten eine Erweiterung gönnte. Dass Märklin Spur H0 nicht für sie gedacht war, störte Barbara wenig; in Kreisen fahrende Züge interessierten sie nicht sonderlich. Sie würde lieber andere Weichen stellen. Etwa bei der Handhabung des Christbaums.
Während die Nachbarn ihre abgetakelten Bäume spätestens zu Heilige Drei Könige an die Straße warfen, musste der Brinkmannsche Baum bis Maria Lichtmess durchhalten. Das war der 2. Februar! Doch da half kein Protest, auch wenn man als die stets willfährige Tochter zum täglichen Wegfegen der Nadeln aufgefordert wurde. Nach dem Hantieren mit dem Kehrblech unterhalb des raumhohen Baumes fühlte Barbara sich mit den pieksenden Nadeln in der Strumpfhose wie eine Märtyrerin.
In gewisser Hinsicht, aber das wäre ein Gedanke zum Beichten gewesen, war die Mutter ein Tyrann. Und hätte das Gymnasium namens Schillerschule, das Barbara neuerdings besuchte, nicht nur des Dichters Namen getragen, sondern wäre ihm auch tatsächlich als Schillers Schule gerecht geworden, hätte sie vielleicht gegen diesen und anderen Irrsinn Widerstand geleistet. So aber war Barbara stolz, als Mädchen überhaupt aufs Gymnasium geschickt worden zu sein. Denn man „heiratete ja doch“. Die aus solchen Worten sprechende Vorstellung, Bildung sei Zeitverschwendung, wenn sie keinen geldwerten Vorteil bietet, hätte selbst die durchaus bildungsbeflissenen Eltern Brinkmann korrumpieren können, hätten die Volksschullehrer bei ihnen nicht den richtigen Nerv getroffen: den Stolz. Sie möchten ihre Tochter, appellierten sie an die Eltern Brinkmann, als mit Abstand Klassenbeste doch bitte unbedingt die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium machen lassen. Worauf der Vater, der sich sonst wenig zu grundsätzlichen Fragen der Erziehung äußerte, sich geschlagen gab mit den Worten: „Eine Fünf, und das war’s.“
Statt Fünfen wurden es bei Barbara dann eher Einsen. Was aber nicht zu besonderem Lob der Tochter führte oder gar zu Anerkennungen in Form von Taschengeld, sondern nur zwei Folgen hatte: dass Rudolf und Hildegard Brinkmann von „unserer Barbara“ sprachen, den Kopf draußen etwas höher trugen und „unsere Barbara“ dem jüngeren Bruder als Vorbild darstellten, worauf der gut hätte verzichten können und das auch sagte.
Es gibt zwar nicht viel Dümmeres, was wohlmeinende Eltern einem jüngeren Kind antun können; aber der Wille zum Aufstieg auf dem Umweg über die Kinder war nach den geplatzten eigenen Träumen durch eine Kindheit und Jugend unter den Nazis stärker als die Vernunft. Diese NS-Verbrecher, so empfand es Barbara, hatten noch Jahrzehnte nach ihrem Ende mehr auf dem Gewissen als all die vielen Toten. So richtig klar wurde ihr das aber erst, als ihr Vater Jahrzehnte später, wenn auch, gemessen an der statistischen Lebenserwartung, immer noch viel zu jung, an Krebs starb und zu ihr sagte: „Nun wein’ mal nicht; es ist ja ein Wunder, dass ich überhaupt noch lebe.“
Ein Wunder war es in der Tat. Denn er hatte als ganz junger Mann Kriegsdienst leisten müssen. Zwar musste er zu seinem Glück auf niemanden schießen, sondern war als Funker bei der Marine eingesetzt, aber er wäre beinahe zusammen mit der gesamten Mannschaft seines getroffenen Schiffes im Skagerrak abgesoffen. Noch immer hatte Barbara den abgeschlagenen Schneidezahn vor Augen, der an den Zusammenprall mit dem Schiffsrumpf im eiskalten Meer erinnerte. Sie ging bereits zur Schule, als der Vater den Zahn endlich hatte reparieren lassen; er gab das Geld lieber für die Kinder aus als für seine Schönheit.
Wenn Bernd als Messdiener agierte, waren Rudolf und Hilde Brinkmann stolz auf ihren Sohn; mit demonstrativem Interesse blieben sie im Kircheneingang stehen und studierten den Aushang mit dem Ministranten-Dienstplan, auf dem sein Name mehr als nur einmal stand. Aber die ganz große Genugtuung, die in der oft bemühten Wendung „unsere Barbara“ ihren Ausdruck fand, bezogen sie unverkennbar aus dem tadellosen Funktionieren ihrer Tochter.
Die sang im Kinderchor und durfte im Adventsgottesdienst „Maria durch ein’ Dornwald ging“ solo vortragen. Sie würde zudem nach bestandener Aufnahmeprüfung nicht nur als einziges Mädchen, sondern sogar als einziges Kind aus ihrer Volksschulklasse aufs Gymnasium wechseln, und jetzt stand auch noch ihre „erste heilige Kommunion“ bevor – ein Ereignis, das in der Familie wie eine Hochzeit vorbereitet wurde.
Die Verwandten würden alle kommen, man würde das Wohnzimmer leer räumen und mit einer riesigen Tafel bestücken und der Hausherr würde seiner Kochleidenschaft beim Zaubern von Büffetplatten freien Lauf lassen. Die Familie besaß nämlich seit geraumer Zeit einen Fernseher, und Rudolf Brinkmann ließ sich keine Sendung des unheilvollen Urmodells aller Fernsehköche namens Clemens Wilmenroth entgehen. Dabei war das, was der gelackte Typ anzubieten hatte, „Toast Hawaii“ und dergleichen, nichts im Vergleich zu dem, was Rudolf selbst zu zaubern imstande war. Dessen federleichte Schwäne aus Brandteig, aus denen weiße Federn aus steif geschlagener Sahne herausschwangen wie die Tutus in Schwanensee, waren nicht nur eine Gaumenfreude, sondern eine in der gesamten Verwandtschaft gerühmte Augenweide.
Für Bernd stellte sich lediglich die Frage, was häufiger fotografiert werden würde: besagte Schwäne, die Körbchen aus gefüllten Eiern und die Fliegenpilze aus Tomaten mit ihren Tupfen aus Mayonnaise oder Schwesterlein in ihrem die finanziellen Verhältnisse der Eltern strapazierenden bestickten Kommunionkleid samt Kränzchen im lächerlicherweise erstmals vom Friseur dauergewellten Haar.
Da saß sie: im Zentrum des von gestärkten Damastdecken bedeckten, blendendweißen, U-förmigen Tisches, ihr besonders von Onkel Manfred immer wieder im Foto festgehaltenes schönes Profil dem unvermeidbaren, ebenfalls mit Kränzchen herausgeputzten „Engelchen“ alias Cousine Sabinchen zugewandt.
Rudolf Brinkmann ging es vor allem um die Geselligkeit. Es war ihm einfach eine Freude, Gastgeber zu sein; da war ihm jeder Anlass recht. Aber Hildegard Brinkmann wollte ihre Kinder bei jeder Gelegenheit als die besten und schönsten sehen. Bei Bernd biss sie da auf Granit; darum sagte er auch, wenn diese Aufforderung erwartungsgemäß auf ihn zukam, partout nicht vor Gästen „die blöden Gedichte“ auf, und mochte die Mutter es hundertmal verlangen. Aber bei Barbara schaffte sie es, das Kind zu dem zu machen, was sie selbst gern gewesen wäre. Wie sie so artig war, so dienstbeflissen, so klug. Sie führte sogar solche Wünsche der Mutter aus, die diese noch gar nicht ausgesprochen hatte: Ein „Einer müsste mal …“ – und schon brachte Barbara den Müll hinunter, wusch ab oder was sie sonst an Schlussfolgerung pflichtschuldig aus den Worten der Mutter herausgehört hatte.
Bernd hasste diese Methode der Mutter, und er war wütend auf seine Schwester, weil sie funktionierte wie gewünscht und ihn dadurch zum Versager stempelte. Er war aber kein Versager; er wollte dieses Spiel nur nicht mitspielen. Einerseits tat es ihm gut, dass die Eltern, wenn sie von „unserem Bernd“ sprachen, ihm nicht anders als seiner Schwester eine Art Stempel der Akzeptanz aufdrückten; andererseits störte ihn die damit verbundene stolze Botschaft gelungener Erziehungsarbeit.
In den Monaten vor dem, was Monika aus der Bukowina die „Kommion“ nannte, drehte sich alles um dieses Thema. Unter den Mädchen war eine Art Leistungswettbewerb ausgebrochen, wer wohl das schönste Kleid hätte und wer die meisten und eindrucksvollsten Glückwunschkarten bekäme. Besonders begehrt waren die dicken Doppelkarten mit angehängten Kreuzen und geprägten goldenen Kelchen, über deren glänzende Rundungen man so wollüstig mit dem Zeigefinger streichen konnte.
Читать дальше