MARMADUKE PICKTHALL
DIE TAUBE AUF DER MOSCHEE
Unterwegs im Orient
Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann
S T E I D L
Cover
Titel MARMADUKE PICKTHALL DIE TAUBE AUF DER MOSCHEE Unterwegs im Orient Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann S T E I D L
Einleitung
Rashîd der Schöne
Eine Garnison in den Bergen
Die Nashornpeitsche
Der höfliche Richter
Nawâdir – Kostbarkeiten
Der klappernde Sack
Polizeiarbeit
Mein Landsmann
Getrennte Wege
Der fahrende Ritter
Der Fanatiker
Rashîds Rache
Der hängende Hund
Die Tiger
Hochmut vor dem Fall
Tragödie
Bastirma
Der Dragoman als Künstler
Liebe und der Patriarch
Der unbeliebte Landbesitzer
Der Caïmmacâm
Über Schmiergelder
Das Schlachtfeld
Die Mörder
Die Bäume des Landes
Wir kaufen ein Haus
Eine Enttäuschung
Über Verbrechen und Strafe
Der Weingarten ohne Mauer
Der Atheist
Wir verkaufen unser Gewehr
Mein Wohltäter
Glossar
Nachwort
Editorische Notiz
Über die Autoren
Impressum
Endnoten
Anfang des Jahres 1894 bewarb ich mich um eine von zwei offenen Stellen im für die Türkei, Persien und Levante zuständigen Konsularischen Dienst, scheiterte jedoch daran, mir im Auswahlverfahren den nötigen Platz zu sichern. Ich war verzweifelt. Monatelang hatten all meine Hoffnungen sonnigen Ländern und alten Zivilisationen gegolten, fern der düsteren Monotonie des Londoner Nebels, die mir nun, da ich ihr nicht entfliehen konnte, wie ein Albtraum vorkam. Da ich mit achtzehn bereits bei ein oder zwei Abenteuern versagt hatte, hielt ich mich für einen völligen Versager und war zutiefst betrübt. Ich träumte von der Sonne des Orients, von Palmen, Kamelen, Wüstensand, wie von einem wegen meiner Unzulänglichkeiten verlorenen Paradies. Wie groß war also meine Freude, als meine Mutter eines Tages meinte, es sei für mich vielleicht von Vorteil, den Orient zu bereisen, denn meine Sehnsucht danach scheine auf einen natürlichen Instinkt hinzuweisen, den sie, die selbst Erinnerungen an den Nahen Osten habe, voll und ganz teile!
Damals hatte man wohl die Vorstellung, ich könne schließlich irgendwie, nachdem ich die Sprachen gelernt und das Leben vor Ort studiert hätte, durch die Hintertür in den Dienst des Außenministeriums treten. Doch obwohl meine Eltern an dieser Idee festhielten, um die Ausgaben für meine Expedition zu rechtfertigen, hatte ich nie Gefallen daran gefunden, und in dem Augenblick, da ich Ägypten, mein erstes Reiseziel, erreichte, verlor sie für mich jeden Reiz, den sie zu Hause gehabt haben mochte. Denn von da an erlosch mein Interesse für europäische Anliegen, wirkten diese doch in der neuen Umgebung irgendwie unangemessen und falsch. Anfangs versuchte ich dieses Gefühl oder diese Auffassung zu überwinden, da mir dergleichen, solange ich unter Engländern lebte, unrecht erschien. Meine ganze bisherige Erziehung hatte darauf abgezielt, mir die kultische Verehrung der Gewohnheiten einer bestimmten Gesellschaftsschicht aufzudrängen. Zu versuchen, mit Orientalen jedweder Herkunft auf Augenhöhe zu verkehren, war etwas, das von den Menschen, die mir bislang als Vorbild gedient hatten, nie getan, ja nicht einmal in Betracht gezogen wurde.
Mein heimlicher Wunsch, die Einheimischen des Landes kennenzulernen, wäre wie andere unkonventionelle Wünsche, die ich zuweilen hegte, bis heute unerfüllt geblieben, hätte eine zufällige Begegnung mich nicht vorübergehend von englischer Aufsicht befreit. Meine Verwandten hatten mich mit Empfehlungsschreiben an verschiedene einflussreiche Engländer in Syrien ausgestattet, unter anderem auch an eine hoch angesehene Familie in Jerusalem; und wir hatten vereinbart, dass ich mich nach meiner Ankunft sofort an diese Familie wenden und sie um Rat und Informationen bitten sollte. Doch an Bord des Schiffes, das mich von Neapel nach Port Said brachte, traf ich einen Mann, der diese Leute gut kannte – tatsächlich hatte er jahrelang in ihrem Haus gewohnt – und der die Rolle meines Mentors übernahm. Ich blieb einige Wochen in Kairo, nur weil auch er blieb, und begleitete ihn auf der Überfahrt nach Jaffa. Aus unbekannten Gründen – vielleicht steckte Irrsinn dahinter – wollte er damals nicht, dass ich Jerusalem besuchte. Und als wir in Jaffa ankamen, erzählte er mir allerlei Merkwürdiges über die Familie, die ich besuchen wollte: Die Leute seien überaus exzentrisch und wankelmütig, und ich solle lieber in Jaffa bleiben, bis er mich benachrichtigte, ob ich wirklich willkommen sei. Wie ich später herausfand, handelte es sich um eine dreiste Lüge, eine Verleumdung eines sehr gastfreundlichen Hauses. Doch damals glaubte ich ihm und all seinen Behauptungen, da mir keine anderen Informationen zur Verfügung standen.
Ich blieb also in Jaffa, in einem kleinen Gasthaus der deutschen Kolonie, das den Vorzug hatte, sauber und billig zu sein, und dort säße ich wohl heute noch, hätte ich auf die Nachricht gewartet, die mir mein Ratgeber versprochen hatte. Während meiner ersten zwei Wochen erschien mir das Leben dort ausnehmend langweilig. Dann nahm sich Mr. Hanauer, der englische Kaplan und berühmte Altertumsforscher, dem mein einsames Dasein offenbar leid tat, meiner an; er führte mich herum und lehrte mich Arabisch. Er stammte aus Jerusalem und liebte Palästina. Meinen geheimen Wunsch, mich mit den Orientalen zu verbrüdern, den ich nach einigem Zögern preisgab, begrüßte er. Und dann lernte ich einen klugen Dragoman, einen der berühmtesten Spaßvögel Syriens, kennen, der zufällig in meiner kleinen Pension wohnte und nichts anderes auf der Welt zu tun hatte als Maulaffen feilzuhalten. Er half mir, das Europäische abzuwerfen und in die Lebensweise der Einheimischen einzutauchen. Mit ihm ritt ich über die Ebene von Sharon, reiste unter Fellâhîn und saß in den Kaffeehäusern von Ramallah, Lydda, Gaza, traf Leute jeglichen Schlages und lernte so den Dialekt mühelos, als wäre es nur ein Spiel. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang saßen wir im Sattel. Wir pilgerten zur Nebi Rubîn, der Moschee am Rand der Marschen an der Küste, auf halbem Wege nach Gaza; wir ritten nordwärts zum Fuß des Carmel; erforschten die Schluchten der Berge von Judäa; besuchten türkische Bäder; aßen die Gerichte der Einheimischen und schliefen in ihren Häusern – befolgten in jeglicher Hinsicht die Bräuche der Landbevölkerung. Und ich staunte, wie sehr ich dieses Leben genoss. In all meinen früheren Jahren hatte ich nie glückliche Menschen gesehen. Diese hier waren glücklich. Sie mochten arm sein, träumten aber nicht von Reichtum. Konkurrenzdenken war ihnen unbekannt, und Streitigkeiten wurden noch immer mit Pferd und Speer ausgetragen. Löhne und Mieten waren Sorgen, von denen sie nie gehört hatten. Es gab keine Klassenunterschiede, so wie wir sie verstehen. Jeder sprach mit jedem. Ungleichheit erwiderten sie mit echter Brüderlichkeit. Manche klagten, sie würden schlecht regiert, was lediglich bedeutete, dass man sie, von bedeutenden Anlässen abgesehen, sich selbst überließ. Eine Regierung, die für jedes Individuum zuständig ist und sich bis zu einem gewissen Grad in den Alltag einmischt, mag von Europäern geschätzt werden, scheint dem Orientalen jedoch unerträglich zu sein. Ich hatte eine Vision der leidenden Völker der Erde, die sich durch ihr Elend genötigt fühlten, die glücklichen Völker ins Unglück zu stürzen; eine Vision, die in späteren Jahren deutlicher wurde. Doch das unbeschwerte Leben des Orients besitzt, wie jeder weiß, der es zu ändern versucht, eine Widerstandskraft, welche die Heerscharen freudloser Plackerei vielleicht noch besiegen kann.
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