Seine Wimpern sind lang und dick und biegen sich nach oben. Er schläft jetzt, das leise Lied seines Atems hat keine Sprache. Auch er wird groß werden, auch in ihm wird eine Sehnsucht wachsen, der er vielleicht keinen Namen geben kann, auch er wird heiße Getränke trinken, er wird lügen und belogen werden, er wird verletzen und verletzt werden, er wird lieben und vielleicht jemand mit einem Haus werden oder einem Leben, vielleicht wird sich die Liebe anfühlen, als wäre er für immer allein. Ihm werden noch über vierzigtausend Dinge geschehen. Nur jetzt und hier kann ich seinen Schlaf hüten, aber ich kann ihn nicht mal vor seinen eigenen Träumen beschützen.
Was sieht er im Traum? Und wenn er im Traum im Kindergarten ist, welche Sprache reden die anderen dann? Doch sicherlich Deutsch. Die Kollegen auf der Arbeit fragen mich, auf welcher Sprache ich träume. Als könnte es nur eine Sprache geben, als könnten sie irgendetwas besser verstehen, wenn sie wissen, welche die Sprache in meinen Träumen ist. Ich rede Kasachisch mit meiner Mutter, Usbekisch mit meinem Vater, Deutsch mit meinen Kollegen und Türkisch mit Esra und Cenk. Auch in meinen Träumen. Wie sollte es anders sein? Ich träume selten von meinen Kollegen und der Arbeit. Träumt Cenk selten vom Kindergarten? Träumt er von Monstern und davon, dass er fällt, ohne aufzukommen, oder dass er allein ist?
Ich hatte ein Herz, ihr könnt euch vorstellen, was damit passiert ist . Das stand an der Wand eines alten, halb verfallenen Hauses in unserem Viertel.
Cenks Augen bewegen sich unter den Lidern. Ich sehe ihn nur, wenn er mit mir und Esra zusammen ist. Ich weiß nicht, wie er im Kindergarten ist. Ich weiß nicht, wie er mit anderen Kindern ist. Esra sieht mich, wenn ich mit ihr Tee trinke oder im Treppenhaus. Ich erzähle ihr nie von den Fragen der Kollegen. Ich erzähle von unserem Viertel und wie ich Geld nach Hause schicke. Ich erzähle von den Menschen, mit denen mich etwas verbindet. Mit denen ich einen Kontakt über den Mund habe, mit allen habe ich Küsse getauscht.
Was macht Cenk im Kindergarten? Wie ist er dort? Glauben die Erzieher auch so wie ich, dass er ein glückliches Kind ist? Mit wem kann er spielen, wenn er nicht redet?
Vielleicht spricht Cenk kein Deutsch, weil er noch nie einen Kuss bekommen hat von jemandem, der Deutsch spricht. Doch deswegen muss niemand zu einem Arzt für den Kopf, es ist nicht der Kopf, der falsch ist, es sind nur die Herzen, die keinen Weg zum Mund finden.
Cenk stöhnt im Schlaf und ich streiche ihm über das Haar:
– Sch, du träumst nur, sage ich auf Deutsch und dann küsse ich ihn auf die Wange.
– Du glaubst nicht wirklich, dass Außerirdische die gemacht haben, oder?
– Nein, sagte ich, das glaube ich nicht. Ich sage nur: Es ist möglich.
Ein Stück trockenes Holz knackte unter dem Rad meiner Schubkarre.
– Es ist längst bewiesen, dass die alle von Menschen gemacht wurden. Zwei Engländer haben zugegeben, dass sie das waren mit den Kornkreisen. Das kann jeder nachlesen. Den einen hat seine Frau verdächtigt, er hätte eine Affäre, weil er sich über Nacht rausschlich, und deshalb hat er ihr gestanden, was er da macht. Aber die Menschen ziehen ja vor, ihr Weltbild nicht von Fakten umschmeißen zu lassen, insbesondere die mit den spirituellen Meisen.
Meine Arme waren schon zerstochen, aber auf Dani war offensichtlich noch keine Mücke gelandet.
– Aber Rationalisten wollen ihr Weltbild doch auch nicht umschmeißen lassen. Sie wollen weiterhin glauben, dass alles irgendwann vom Verstand erfasst werden wird, auch wenn es keinerlei Hinweise darauf gibt, dass das möglich sein könnte. Sie sind wie Leute, die glauben, man würde eine Melodie verstehen, wenn man sie Ton für Ton durchanalysiert. Dabei lebt die Melodie ja vom Zusammenspiel.
Das Rad meiner Karre blockierte plötzlich, ich schrammte mir das Schienbein am Blech auf. Es ging leicht bergauf, ich ließ die Karre etwas zurückrollen und versuchte dann, mit Schwung über die Erhebung zu kommen. Auch beim zweiten Versuch blockierte das Rad und ich schrammte mir das andere Schienbein auf. Ich nahm zwei Schritte Anlauf und versuchte es etwas weiter rechts.
Dani war mittlerweile aus dem Lichtkreis meiner Stirnleuchte verschwunden. Mein T-Shirt klebte mir am Rücken, es war eine ausgesprochen warme Nacht und ich fragte mich, wovon sich die Mücken ernährten, wenn keine Menschen im Wald waren.
Dani stellte ihre Stiefel auf die hydraulische Ladefläche des Transporters, als ich ankam, gut acht Kilo wog ein einzelner Stiefel und wir hatten noch nicht mal die Hälfte im Transporter. Die Sonnenblumen waren so hoch, dass man achtgeben musste, die Stiele nicht zu knicken.
– Fast fertig, sagte Dani und setzte sich auf die Ladefläche. Zigarettenpause?
Sie war mager, trug zerschlissene, enge schwarze Jeans, ein schwarzes Top, lilafarbene Chucks, ihre Arme waren muskulös und makellos, kein einziger Stich oder Kratzer von Büschen. Ich sah auf die Uhr. Kurz nach zwei. Dann schüttelte ich den Kopf.
– Bis wir alle Stiefel im Transporter haben, ist es drei. Bis wir in der Stadt sind, fast vier. Wir müssen uns ranhalten.
Sie lächelte und glitt von der Ladefläche. Wir schoben unsere Schubkarren zurück.
– Was ja die wenigsten wissen, sagte ich, die beiden Männer wurden vom Geheimdienst bezahlt. Sie haben die Kornkreise tatsächlich selbst gemacht, aber eben auf Befehl. Damit man sagen kann, dass alle Kornkreise auf wissenschaftlich nachvollziehbare Weise erklärt werden können. Auch die, die schon vor fünfhundert Jahren gesehen wurden.
– Ah, sagte Dani, Freimaurerlogen, Rosenkreuzer, Inside Jobs, Weltherrschaft, Geheimlehren, die der Allgemeinheit vorenthalten werden, eine Welt hinter der Welt, wie wir sie kennen, Menschen, die im Verborgenen daran arbeiten, ihr Wissen und ihre Macht zu monopolisieren, schon seit Jahrhunderten. Sie klang ein wenig gelangweilt.
– Snowden, der allererste Renegat? Hätte es nicht vor ihm etliche andere geben müssen, über diese Jahrhunderte verstreut? Können diese Geheimbünde tatsächlich Geheimnisse für sich behalten? Alles kommt früher oder später raus.
– Kennedy, warf ich ein.
– CIA, geschenkt, sagte sie.
– Dafür gibt es genauso wenig Beweise wie für die außerirdische Herkunft der Kornkreise.
Sie lachte und es klang leicht amüsiert. Die Arbeit machte ihr kaum Mühe, Kunststück, sie war Jugendeuropameisterin im Taekwondo gewesen, vor gerade mal sieben Jahren.
– Was ist mit diesen Medien, die Botschaften aus dem All oder von Verstorbenen empfangen?, sagte ich. Sind das auch alles nur Scharlatane?
Sie schaute mich an, als wäre ich ein Kind. Wir waren bereits kurz vor unserer Baumschule, wie wir es immer nannten. Matze hatte hier letztes Jahr noch Cannabis gezüchtet und uns nun den Platz für die Aktion zur Verfügung gestellt. Nächstes Jahr wollte er wieder Geld verdienen. Deshalb waren wir auch nur zu zweit hier. Je weniger davon wussten, desto besser.
Es war nicht leicht gewesen, Matzes und Danis Vertrauen zu gewinnen. Jetzt war ich dabei, in Danis Achtung zu sinken, das war mir klar. Als wir die Gummistiefel auf die Schubkarren geladen hatten und zurückgingen, versuchte ich es dennoch ein weiteres Mal.
– Es ist den meisten Menschen einfach nicht zugänglich, sagte ich, das ist wie höhere Mathematik. Da sagt doch auch niemand, das ist unwissenschaftlich, nur weil das Hirn eine bestimmte Veranlagung mitbringen muss, um da durchzusteigen. Aber wenn jemand Botschaften empfängt, weil er sensibel …
– Ich glaube niemandem, der mit meiner toten Oma sprechen kann, unterbrach sie mich harsch.
Wenn ich mich nicht täuschte, schwitzte sie langsam auch. Ihr Geruch vermischte sich mit dem Geruch des Waldes und mein Herz pumpte schwer, also hielt ich den Mund und atmete durch die Nase ein.
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