Abstand halten. Wie lange hatte ich das versucht?
– Was soll das bringen, wenn er es nicht auch versucht?
Ich sah ihn an und blieb ihm eine Antwort schuldig. Ich suchte nach dem Satz, dem Satz, in dem er sich selbst sehen konnte.
– Bist du sauer auf Ayleen?
– Warum?
– Weil sie dir erst jetzt die Wahrheit gesagt hat?
– Das sind alles Lügen, jeder lügt dich an , sagte er.
Er hatte es nicht gerappt, aber ich erkannte den Tonfall.
– Azad, sagte ich.
Da war immerhin ein Moment der Überraschung in seinen Augen.
Hip-Hop. Er musste acht gewesen sein, als das Album erschien. Mit Hip-Hop hat es angefangen, in der Nacht, in der wir diesen Jungen gezeugt haben. Diese Nacht. Ayleen hat mir erzählt, wie sich ihre Eltern getrennt haben, als sie sechs war. Wie sie ihren Vater vermisst hat. Wie ihre Mutter einen neuen Mann gefunden hat, der zu ihnen zog, und wie sie dann immer wieder zu Ayleen gesagt hat: Wenn das mit dem Thorsten auch nicht klappt, ist das deine Schuld. Wie sie Thorsten gehasst hat und wie schuldig sie sich deswegen gefühlt hat.
Die Nacht, in der Lesane empfangen wurde, Hip-Hop, Gras, Pep, Wodka, Bedauern, Sehnsucht, Geständnis, falsche Nostalgie, Geilheit.
– Was hörst du sonst so?, fragte ich.
– Haftbefehl, Xatar, SSIO, PA Sports, KMG, die frühen Sachen von Sido, Nazar, Nimo, Vega.
Ich nickte.
– Rappst du?
Er schüttelte den Kopf.
– Du tickst, sagte ich.
Er verzog keine Miene. Ich hätte nicht sagen können, ob irgendetwas in ihm arbeitete. Ich wusste nur, dass ich richtig lag. Ich wusste aber nicht, ob das der Grund für seine Probleme mit Sami war. Wenn ich nur eine Ahnung gehabt hätte, was für ein Mensch mein Sohn war. Welche meiner Eigenschaften er hatte und welche nicht. Ob er verloren war und wenn ja, auf welche Weise. Und was das für mich bedeutete.
Mitte vierzig, Carhartt-Jeans, teures Hemd, Veja-Turnschuhe, leicht angegrautes, schütter werdendes Haar, gepflegter 14-Tage-Bart. Die Augenringe und die eingefallenen Schultern verbargen nicht, dass er es gewohnt war, sich mit jedem Mann im Raum zu messen und sich für den Gewinner zu halten.
Solche Männer hatte ich als Personal Trainer nicht motivieren müssen, die brauchten mich nur, damit da jemand war, dem sie sich überlegen fühlen konnten. Den sie nicht im Zweifel darüber ließen, wer hier das Sagen hatte und dass sie weit Wichtigeres leisteten, als zehn Kilo mehr aufzulegen oder beim Sparring die Deckung nicht sinken zu lassen.
In der Regel waren meine Klienten als Detektiv älter, unbeholfen in einer Welt, die sich Internet nannte, während Armbruster so aussah, als würde er vor dem Morgenkaffee durch seine Pushnachrichten scrollen und in Start-ups investieren.
– Herr Balcı hat Sie mir empfohlen, fing er an.
Er sprach es Baltschi aus und ich fragte mich, ob so ein Name Misstrauen in ihm auslöste und ob die Uniform half, es zu überwinden.
Ich nickte. Den Termin hatte seine Sekretärin vereinbart, ich wusste nicht, worum es ging.
– Mein Sohn …
Er sah aus dem Fenster.
– Mein Sohn ist vor zehn Tagen gestorben. An einer Droge, die er im Darknet gekauft hat. Mephedron. Es ist unwahrscheinlich, dass der Dealer gefasst wird, sagt die Polizei. Sie tun alles, was in ihrer Macht steht, wollen mir aber keine Hoffnungen machen. Mein Anwalt sagt, es ist nahezu aussichtslos, dafür braucht man mehrköpfige Sonderkommissionen. Er war achtzehn, sagte er mit erstickter Stimme.
Irgendetwas in meiner Magengegend schien sich zu verschieben. Ich versuchte sein Leid zu fühlen. Es gelang mir nicht. Aber irgendetwas berührten seine Worte dennoch.
– Mein Beileid, sagte ich.
Wenn die Leute Darknet sagen, heißt das meist, dass sie keine Ahnung haben, wovon sie sprechen. Sie stellen sich das Darknet als einen Bereich vor, der vom übrigen Internet abgeschnitten ist. Wie eine Anliegerwohnung, die eine eigene Haustür hat. Dabei ist das Darknet mehr so eine Art Zwischenboden, den man eingezogen hat. Es ist mitten im Haus. Man braucht nur eine Leiter, um hinzukommen.
– Können Sie den Dealer finden?, fragte er.
– Kommt darauf an. Sind Sie sicher, dass die Drogen aus dem Internet sind?
– Ja. Sein Freund hat überlebt. Er hat es erzählt. Fynn … mein Sohn war derjenige, der die Drogen besorgt hat.
– Wissen Sie, wo genau?
– Eine Plattform im Darknet, die Dream Market heißt.
– Also nur über Tor erreichbar, stellte ich fest.
Er nickte etwas unsicher. Ich brauchte sein Vertrauen.
– Tor ist eine Technologie, die vom amerikanischen Militär entwickelt wurde, um eine Kommunikation zu ermöglichen, bei der der Absender nicht ermittelbar ist. Heute wird diese Verschlüsselung nicht nur dazu benutzt, um Zensur in diktatorischen Regimen zu umgehen und Surfverhalten zu verschleiern, sondern auch, um kriminelle Foren und Marktplätze zu hosten.
– Ich möchte, dass der Mörder zur Verantwortung gezogen wird, sagte er.
– Der Betreiber von Dream Market oder der Händler, der Ihrem Sohn die Drogen verkauft hat?
Ich sah das kurze Zögern und fügte hinzu:
– Das ist jemand, der die Plattform betreibt, auf der wiederum einzelne Händler ihre Drogen anbieten.
Er schien verstanden zu haben, reagierte aber nicht sofort und ich erklärte es ausführlicher:
– Silk Road war die erste Plattform, auf der Drogen angeboten wurden. Es war ein historischer Moment, in dem Bitcoins, Tor und Drogen zum ersten Mal zusammengebracht wurden. Es ist bekanntgeworden als Amazon des Drogenhandels, doch es war mehr eine Art eBay, wo Anbieter und Käufer zusammenfanden. Wie bei eBay stellte jemand die Plattform zu Verfügung, aber die Verkäufer sind letztlich andere. Der Betreiber von Silk Road ist 2013 verhaftet worden, aber viele Händler sind dann auf die Nachfolgeplattformen ausgewichen. Von denen Dream Market eine ist. Es gibt einen oder mehrere Betreiber. Doch die sind nicht die, die Ihrem Sohn die Drogen verkauft haben, sondern ein Händler, der dort seine Waren anbietet. Also, wollen Sie den Händler oder wollen Sie den Menschen, der die Plattform betreibt?
– Beide.
– Ich kann nur versuchen, den Händler ausfindig zu machen. Für den Betreiber reichen meine Ressourcen nicht. Da ist es auch nicht mit einer Sonderkommission getan, dafür braucht es internationale Zusammenarbeit.
– Dann nur den Händler.
– Ich kann es versuchen. Lassen Sie mich das Vorgehen skizzieren. Schritt eins: Ich müsste Fynns Computer sehen, sein Smartphone, sein Tablet, alles, womit er ins Internet konnte. Ich würde mit seinem Freund sprechen, um Informationen zu sammeln. Schritt zwei: Ich müsste versuchen, die Identität des Händlers herauszufinden. Wahrscheinlich sitzt er nicht in Deutschland, sondern in Holland oder Großbritannien, das würde die Spesen möglicherweise erhöhen. Schritt drei: Wir übergeben den Strafverfolgungsbehörden die ermittelten Beweise und die nehmen den Händler fest.
Er nickte.
– Hansa Market und AlphaBay sind kürzlich hochgenommen worden, vielleicht haben Sie es mitbekommen. Mit Valhalla, Dream Market, Majestic Garden, Zion Market bleiben noch reichlich Plattformen, auf denen Drogen gehandelt werden, online. Auf jeder Plattform sind schätzungsweise zwei- bis dreitausend Händler aktiv. Die wenigsten von denen werden erwischt, selbst wenn die Plattform beschlagnahmt wird und die Betreiber festgenommen werden. Ich will Ihnen keine falschen Hoffnungen machen: Schritt drei, den Händler zu enttarnen, ist unwahrscheinlich, aber ich kann es versuchen.
Er nickte erneut.
– Schauen wir erst mal bei Dream Market nach Mephedronhändlern. Moment.
Ich öffnete den Tor-Browser, loggte mich bei Dream Market ein und gab Mephedron in das Suchfeld ein. Dann drehte ich den Monitor so, dass er ihn sehen konnte.
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