Die kommunikative Demutshaltung par excellence ist nämlich der Dialog. Im Dialog wird Kommunikation auf Augenhöhe konsequent gelebt, ja sie ist eine notwendige Voraussetzung für sein Gelingen. Der Dialog lässt alles Instrumentelle los und verlangt dafür von den Dialogpartnern, sich auf einen gemeinsamen Prozess einzulassen, der in keiner Weise planbar ist. Man weiß nie, was im nächsten Moment geschehen wird, und nimmt immer genau das an, was tatsächlich geschieht. Wenn wir es wagen, und ich wähle bewusst das Verb »wagen«, uns als Berater in einen Dialog mit unserem Klienten einzulassen, geben wir alle lieb gewonnenen Mittel der Macht und Kontrolle über die Situation aus der Hand. Wenn wir wirklich in einen Dialog eintreten, geben wir prinzipiell die Möglichkeit auf, das Gespräch zu steuern. Ein Dialog steuert sich selbst organisiert, er ist ein System im luhmannschen Sinne – autopoietisch, selbstreferenziell und operational geschlossen. Als soziales System tritt er zwischen die Bewusstseinssysteme der Beteiligten und entwickelt dort ein vitales Eigenleben. Das Zusammenspiel dieser unterschiedlichen Systeme im Coaching lässt sich vielleicht am ehesten als gemeinsame Entwicklung oder koevolutionärer Prozess verstehen. Man kann nicht planen, welche Wirkungen wann in welchem der beteiligten Systeme geschehen. Wenn der Berater seiner Arbeit mit dialogischem Verständnis nachgeht und sich für Wirkungen offenhält, kann es passieren, dass er für sich selbst wertvolle Erkenntnisse aus dem Coaching mitnimmt, vielleicht sogar wertvollere Erkenntnisse als der Coachee.
Andreas H. ist Mitte 30 und ein sehr erfolgreicher Investmentbanker. Er möchte im Coaching eine berufliche Standortbestimmung vornehmen und seinen weiteren Weg gegebenenfalls entsprechend anpassen. Für Liebhaber des Klischees ist er eine dankbare Projektionsfläche: Er ist noch recht jung, von schlanker und sportlicher Statur, sieht blendend aus, hat die mittellangen Haare zurückgekämmt, lächelt meist optimistisch und zeigt die Insignien der Wohlhabenheit in Kleidung und Accessoires, ohne damit zu protzen. Bereits in der ersten Sitzung konnte ich feststellen, dass Andreas H. ein liebenswerter und -würdiger, sehr nachdenklicher und selbstkritischer junger Mann ist, der sich bereitwillig seinen Schatten stellt und seine blinden Flecken ausleuchtet. Soviel zu den Klischees.
Die Gespräche mit ihm waren so anregend, dass ich aus ihnen eher energetisiert als abgearbeitet für mein weiteres Tagewerk herauskam. Jeder Berater kennt diesen Effekt. Es gibt Kunden, die sich positiv, und solche, die sich negativ auf unsere persönliche Energiebilanz auswirken. Zu einem unserer Termine, die stets morgens in meinem Büro stattfanden, kam ich, ich weiß nicht mehr warum, in ziemlich deprimierter Stimmung. Insofern war es gut, nicht einen dieser Energiestaubsaugertermine zu haben. Aber aufgehellt hat sich meine Stimmung auch nicht gerade. Das Gespräch war schon fast vorüber, da geschah etwas, was man eigentlich als beraterische Intervention bezeichnen könnte, wäre es nicht vom Beratenen statt vom Beratenden gekommen. Wir waren mit Fragen des Selbstmanagements und der Tagesgestaltung beschäftigt, als Andreas H. mit dem gewinnendsten Lächeln, das man sich vorstellen kann, sagte: »Ich steh’ jeden Tag auf und freu’ mich auf das, was ich erleben kann.« Das saß! Diese wundervolle positive Selbstaffirmation meines Kunden löste eine Kette von Gedanken und Gefühlen bei mir aus, die mich innerhalb kürzester Zeit raus aus der Deprimiertheit und hinein in einen Zustand der Leichtigkeit versetzte. Ich bin davon überzeugt, dass diese Wirkung in meinem eigenen Bewusstsein, in meiner Psyche nur entstehen konnte, weil ich im Gespräch mit Andreas H. eine dialogische Haltung hatte. So konnte ich zulassen, dass nicht nur mit ihm, sondern auch mit mir etwas geschieht. Hätte ich eine asymmetrische beraterische Distanz aufrechterhalten, wäre dies kaum möglich gewesen. Ist das problematisch oder gar unprofessionell? Ich finde, es ist zunächst nur eine logische Konsequenz aus der oben beschriebenen Systemsicht. Sie führt nun einmal dazu, dass man nicht verhindern kann, auch als Berater von einer Beratung zu profitieren. Damit bekommt der Begriff »Beratung« schon einen etwas veränderten Gehalt, nämlich statt »einer berät den anderen« eher »man berät sich«. Problematisch ist dann allenfalls die Frage, wer wem eine Rechnung stellen darf. Was in dem Gespräch mit Andreas H. geschah, war eine Folge davon, dass ich mich dialogisch auf ihn eingelassen hatte. Und an dieser Stelle kommt auch das Zen ins Spiel.
Bei der Praxis des Zen handelt es sich meines Erachtens genau um dieses dialogische Sicheinlassen. Was den Dialog und das Zen verbindet, ist diese vollkommen untaktische Direktheit. Sicheinlassen im Zen wie im Dialog bedeutet, sich hinzugeben, wie Allen Watts in der folgenden Musikanalogie sehr schön zum Ausdruck bringt:
»Wer die ganz Sinfonie hören will, muss sich konzentrieren auf den Fluss der Töne und Harmonien, wie sie ins Dasein treten und verklingen, und seinen inneren Sinn ständig im selben Rhythmus mitlaufen lassen. Über das Verklungene sich Gedanken machen, neugierig sein auf das Kommende oder die eigenen Empfindungen analysieren heißt: die Sinfonie unterbrechen und sich die Wirklichkeit entgleiten lassen. Die Aufmerksamkeit muss restlos auf die Musik gerichtet und das eigene Ich vergessen werden« (Watts 1986, S. 46).
Hier wird schon deutlich, dass dieses Sicheinlassen im Zen sich keineswegs auf zwischenmenschliche Interaktionen beschränkt. Vielmehr besteht die, wenn man so will, Spiritualität des Zen darin, dieses Sicheinlassen in den profansten Alltagsverrichtungen zu praktizieren. Die Praxis des Zen erstreckt sich auf alles Alltägliche, sie reicht vom Karottenschälen bis zur Meditation und vom Kirschkernweitspucken bis zum Stuhlgang. Welcher Tätigkeit auch immer man gerade nachgeht, man kann dies in einer mechanischen Weise des Erledigens und Abhakens tun oder in der Weise des Zen, die Alan Watts beschreibt, indem er George Herbert zitiert:
»Alles will sich mit Dir erfüllen,
Nichts kann so niedrig sein,
Das, wenn getan um Deinetwillen,
Nicht leuchtend wird und rein.
Ein Knecht, der das erwägt,
Macht göttlich sein Bemühn.
Wer einen Estrich Dir zuliebe fegt,
Adelt damit sein Tun und ihn« (Watts 1986, S. 85).
Durch Zuwendung, Sicheinlassen und Hingabe erzeugen wir eine dialogische Beziehungsqualität der Unmittelbarkeit mit Menschen, aber auch mit Musik, Materialien und Verrichtungen aller Art. Was immer du tust, tu es, indem du die Würde aller beteiligten Wesen und Dinge achtest: Das ist vielleicht die wichtigste Botschaft des Zen. Diese Unmittelbarkeit, diese Direktheit war auch einer der Schlüssel für die überraschende Wendung im Coaching mit Karin E. Was in der angeführten Textstelle von Schopenhauer als »die Idee« bezeichnet wird, ist eigentlich eine aus der dialogischen Beziehungsgestaltung hervorgehende Erkenntnis. Diese Beziehungsgestaltung ist demütig im oben beschriebenen Sinne, sie findet konsequent auf Augenhöhe statt und lässt radikal alles Instrumentelle fallen, denn ihre Qualität ist wichtiger als die Beherrschung und Anwendung professioneller Techniken. Die beraterische Beziehung wird zu einem von Berater und Klient gemeinsam erschaffenen Zwischenraum, in welchem eine beide berührende Begegnung stattfinden kann.
Für das Systemverständnis im Teamcoaching bietet sich eine Analogie zu Schulz von Thuns Konzept des »inneren Teams« (Schulz von Thun 1998) an. So wie bei ihm die verschiedenen Bewusstseinsanteile eines Menschen die Mitglieder des inneren Teams darstellen, bilden in dieser Analogie die Bewusstseinssysteme der Mitglieder z. B. eines Managementgremiums sein inneres Team. Das äußere Team ist das soziale System. Es wird also durch die aneinanderknüpfenden Kommunikationen des Managementteams konstituiert und kann nicht ohne Weiteres auf die Inhalte der Bewusstseinsebenen, also das innere Team, zugreifen. Die Interaktion mit dem Berater sorgt im Team- wie auch im Einzelcoaching letztlich dafür, dass im Wechselspiel zwischen Bewusstseinsebenen und Kommunikation etwas anderes passiert, als es ohne den Berater passieren würde. Und dieser Unterschied wird vom Kunden hoffentlich als nützlich erlebt. Jedoch ist es alles andere als trivial, mit dieser Systemkonstellation produktiv umzugehen. Deshalb ist auch hier Demut des Beraters angezeigt.
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