Das war mir neu. Davon hatte er noch gar nichts erzählt … oder bluffte er?
»… aber da ist wohl auch nichts zu machen.«
»Tja, und dann habe ich sie …« – ich zeigte auf das Mädchen.
»Veronika«, sagte sie rasch.
»… habe ich Veronika kennengelernt, und sie hat mir von eurem Unternehmen erzählt.«
Frank ließ uns nicht aus den Augen.
»Hast du ’ne Kippe für mich?«, wandte er sich plötzlich an Rolf. Der zog eine Selbstgedrehte aus seiner Hemdtasche und reichte sie ihm. Dann beugte er sich zu ihm hinüber, um ihm Feuer zu geben.
»Gut.« Frank blies den Rauch über unsere Köpfe hinweg.
»Am vierundzwanzigsten September geht die nächste Gruppe. Wenn ihr wollt, könnt ihr mit.«
»Am vierundzwanzigsten September?«, wiederholte Rolf. »Das heißt: kommende Woche?«
Er nickte.
Schon in einer Woche … eine Woche war so schnell vorbei … was würde ich bis dahin noch alles erledigen müssen? Es kam mir fast vor, als hätte man mir gesagt, mir bliebe nur noch eine Woche zu leben.
»Wir müssen schnell handeln. Kann gut sein, sie machen demnächst auch die Kanalisation dicht.« Es klang, als hätte er das schon x-mal zu Leuten gesagt, die ähnlich dachten wie ich im Moment. »Ihr könnt aber auch auf die Warteliste, dann …«
»Wir gehen mit«, unterbrach ich ihn entschlossen.
»Gut. Ihr werdet zu sechst sein. Also noch drei andere. Wer, das braucht ihr nicht zu wissen. Kein Gepäck. Dunkle Kleidung bitte. Und weder Seile noch Taschenlampen mitnehmen. Wenn ihr mit so was erwischt werdet, ist es für die ganze Gruppe aus. Ein siebter, der Deckelmann, macht den Kanaldeckel auf und schließt ihn hinter euch wieder. Unten geht ihr geradeaus. An der Grenze sind die Gänge mit Sperrgittern versehen, aber unter denen kann man durchtauchen. Jenseits davon stehen zwei Westler. Die führen euch zu einem Ausgang außer Sichtweite der Grenze. Unterwegs nicht sprechen und kein Licht machen. Das Ganze muss schnell und leise vor sich gehen.«
Seine Erläuterungen waren äußerst präzise, dabei kurz und knapp.
»Selbstverständlich redet ihr mit keinem darüber. Ihr verhaltet euch bis zum vierundzwanzigsten wie sonst auch. Geht zur Arbeit, kauft ein – alles wie immer. Kein Abschied von Familienangehörigen und so. Und keine Briefe hinterlassen, das würde euren Leuten nur Scherereien machen.«
Ich schluckte.
»Noch Fragen?«
Mir fiel so schnell nichts ein. Und auch Rolf schüttelte den Kopf. »Also gut. Sonntagabend um zehn wartet Veronika in der Kneipe, wo ihr sie kennengelernt habt, auf euch.« Die beiden standen auf und gaben uns nacheinander die Hand.
Und ehe ich mich’s versah, waren sie auch schon verschwunden. Rolf und ich saßen allein da und sahen einander ungläubig an: Würden wir tatsächlich schon nächste Woche im Westen sein?
»Mir scheint, wir sind Glückspilze«, meinte Rolf schließlich. »Besser organisiert könnte die Flucht gar nicht sein. Das hätten wir selber nie so hinbekommen.« Er grinste.
Ich erwiderte das Grinsen halbherzig. Irgendwie konnte ich es noch nicht fassen.
Auch als ich zu Hause in meinem Zimmer am Fenster stand und es endlich zu regnen begonnen hatte, kam mir unser Vorhaben noch unwirklich vor. In einer Woche würde ich nicht nur bei Heike sein, sondern auch als Staatsfeind gelten und meine Familie nie mehr wiedersehen.
Es wurde die merkwürdigste Woche meines Lebens. Ich war ängstlich, erleichtert, aufgeregt und deprimiert – alles zugleich. Die Zeit verging zu schnell und doch nicht schnell genug. Ich versuchte, Franks Anweisung zu befolgen und mich so zu verhalten wie sonst auch. Aber das war schwierig, weil ich mich so völlig anders fühlte.
Am Esstisch prägte ich mir das Gesicht meiner Mutter ein, ihre Augenfarbe, ihre Haarfarbe und die feinen Fältchen in den Mundwinkeln. Jeden Satz, den sie sagte, wollte ich mir merken.
Auch meinen Vater betrachtete ich heimlich. Und wieder einmal wurde mir bewusst, wie wenig ich ihn doch kannte. Zu gern hätte ich gefragt, woher sein Starrsinn und seine Härte rührten, warum er sich wie mit einem Panzer gegen uns abschottete. Der Krieg hat ihn innerlich umgebracht, hatte meine Mutter einmal gesagt, aber nicht erklärt, wie sie das genau meinte. Er selbst mied das Thema Krieg. Als er ’46 aus russischer Gefangenschaft zurückkehrte, traf er zu Hause Kinder an, die ihn den größten Teil ihres Lebens nicht gesehen hatten. Ich – damals fünf – hatte ihn überhaupt noch nie gesehen. Mein Vater war für mich das Foto auf Mutters Nachttisch. Ein stattlicher Offizier in Wehrmachtsuniform mit lachendem Gesicht. Und auf einmal stand ein ausgemergelter Mann in der Tür, der meine Mutter küsste und von da an bei uns wohnte. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich begriff, dass der wortkarge Mann, der mich schlug, wenn ich im Weg herumstand oder meinen Teller nicht leeraß, derselbe war wie auf dem Foto. Für ihn wiederum war ich das Kind, von dem er nur aus Briefen meiner Mutter wusste. Gudrun und Rolf hingegen hatte er als Säuglinge und Kleinkinder erlebt.
Als ich in die Pubertät kam, rechnete ich des Öfteren nach, traute mich aber nicht, meine Mutter direkt zu fragen, ob er neun Monate vor meiner Geburt auf Heimaturlaub gewesen war.
Jedenfalls war es, als hätte sein Leben erst mit der Rückkehr aus der Gefangenschaft begonnen, denn über früher sprach er nie, auch nicht über die Zeit vor dem Krieg. Eine einzige Geschichte aus dem Krieg kam mir zu Ohren, als er sie Florian erzählte. Vater und seine Kameraden hatten im Afrikakorps gekämpft und in der Wüste ein Kamel eingefangen, mit dem sie ein britisches Lager überfallen wollten. Weil das Tier ihnen den gesamten Wasservorrat wegsoff, war ihr Vorhaben zum Scheitern verurteilt. Aber das konnte ihn innerlich nicht umgebracht haben. Es musste etwas anderes gewesen sein.
Ich überlegte, ob er es mir wohl sagen würde, wenn er von unserem Fluchtplan wüsste und dass wir einander wahrscheinlich nie mehr sehen würden. Nein, eher nicht … stattdessen würde er mir eine Predigt halten. Über Gehorsam und Pflichtbewusstsein. Und mich abkanzeln, weil ich mir von einem Mädchen aus dem Westen den Kopf hatte verdrehen lassen. Seine wahren Gefühle würde er hinter Prinzipien und Ermahnungen verstecken. So wie immer. Also ließ ich es beim Beobachten und bedauerte, dass ich meinen Vater nie wirklich würde kennenlernen.
Wenn ich durch die Straßen ging, kamen mir die Farben anders vor, die Sonne wärmte meine Haut intensiver, und der Wind trug die verschiedensten Gerüche heran. An den heruntergekommenen Häusern, den Schutthalden aus dem Krieg, den neu angelegten breiten Straßen und den einförmigen Wohnblocks nahm ich Details wahr, die mir vorher nie aufgefallen waren. Ich sah, dass die Sockel der Laternenpfähle entlang der Stalinallee kleine Klappen hatten und dass eines der Arbeiterdenkmäler an der Rathausstraße statt Stiefeln eine Art Pantoffeln trug. Die Herbstblumen im Park hatten leuchtendere Farben, und die Straßenbahnen bimmelten lauter. Nur die Parolen auf den Plakatwänden blieben leere Phrasen.
Und ich achtete auf etwas, das mich bisher nie interessiert hatte: die Gullys. Ihr Durchmesser würde einen problemlosen Abstieg erlauben. Und sie hatten Löcher, an denen der Deckelmann sie anheben konnte. Wie viele von den Gängen darunter mochten in den Westen führen? Letztlich wohl alle, denn da unten stand alles miteinander in Verbindung. Und wenn ich auf einem Gullydeckel stehen blieb, war mir, als könnte ich das fühlen und als hörte ich das Abwasser unter mir rauschen.
Mir alles so gut wie möglich einzuprägen war meine einzige Möglichkeit, Abschied zu nehmen. Mutter und Vater müssten sich später alles zusammenreimen. Das heißt, vermutlich würde jemand von der Staatssicherheit kommen, um sie über unsere Flucht zu informieren. Sie würden die Nachricht ebenso verwundert wie entsetzt aufnehmen, sodass der Stasi-Mensch gar nicht auf die Idee kam, sie könnten Mitwisser sein.
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