Ein Stück weiter war die Mauer niedriger; dort konnten Ost und West einander noch in die Augen schauen. Ich sah ein Brautpaar auf der Westseite, weinend und mit ausgestreckten Armen. Und hier, auf unserer Seite, ein Grüppchen in Festtagskleidung. Der Grenzer schaute sich verstohlen um und dann demonstrativ weg. Sofort gingen die Ostler bis zur Mauer und fassten darüber hinweg die Hände der Jungverheirateten. Eine Hand mit einem Ring wurde in die Höhe gehalten. Ich sah, wie es im Gesicht des Grenzers zuckte. Offenbar war ihm klar geworden, was diese Mauer anrichtete. Nach ein paar Minuten jedoch wurde er unruhig und forderte die ostdeutsche Familie mit barschen Worten auf zurückzutreten.
In der Bernauer Straße, so hatte ich gehört, verlief die Grenze unmittelbar an den Häusern entlang. Die Häuser selbst gehörten zum Osten, der Bürgersteig davor aber zum Westen. Ich folgte der Ruppiner Straße bis zur Kreuzung mit der Bernauer Straße und sah eine schulterhohe Absperrung. In einiger Entfernung von den Grenzwächtern blieb ich stehen, den Blick auf das vierstöckige Eckhaus gerichtet. Im Erdgeschoss befand sich eine Eisenwarenhandlung, deren Zugang auf der Westseite lag. Der Laden war leer geräumt. Mir fiel ein Kellerschacht auf. Ein Kellerschacht im Osten … und ein Zugang im Westen …
Mir kam eine Idee, nebulös noch, aber ehe sie Form annehmen konnte, fuhren zwei Lastwagen vor, einer mit Soldaten, der andere leer, und hielten vor dem Haus, das ich im Visier hatte. Die Soldaten sprangen herab und liefen in das Gebäude. Ich trat ein paar Schritte zurück und sah, dass drüben im Westen etliche Schaulustige stehen geblieben waren.
Bald kamen die Soldaten wieder aus dem Haus. Sie schleppten Möbel, die sie auf die Lastwagen luden. Ihnen folgten die Bewohner, viele mit Koffern. Sie wurden aufgefordert, die Wagen zu besteigen.
»Hier ist es gefährlich, aber wir bringen Sie in Sicherheit, Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagte einer der Männer zu einer alten Frau. Sie schien seine Worte gar nicht wahrzunehmen, blieb mitten auf der Straße stehen und starrte wie abwesend das Haus an.
Zu gefährlich, dachte ich, zu gefährlich für unseren Staat. Zu gefährlich, weil diese Leute versuchen könnten zu fliehen. Ich biss mir auf die Lippe.
Hinter der alten Frau waren noch mehr Personen aus dem Haus gekommen, alle mit bedrückten Gesichtern. Es fiel ihnen sichtlich schwer, ihr Zuhause zu verlassen. Ein kleines Mädchen auf dem Arm seiner Mutter kreischte in den höchsten Tönen: »Felix! Felix!« Und es streckte die Ärmchen in Richtung Haustür.
Die Mutter versuchte, das Kind zu beschwichtigen. »Felix wird bald bei uns sein, Liebes. Ganz bestimmt.«
Aber die Kleine war untröstlich.
»Wir kommen jeden Tag her und schauen nach, ob er da ist«, versprach die Mutter. Dann half ein Soldat ihr auf den Lastwagen.
Mit einem Mal entstand jenseits der Mauer Unruhe. Die Leute, die sich dort eingefunden hatten, blickten alle in die Höhe.
Ich ebenso. Und auch die Grenzwächter.
An einem Fenster im dritten Stock bewegte sich etwas. Ich konnte aber nicht genau sehen, was dort passierte. Ein Grenzer machte den Soldaten ein Zeichen. Daraufhin stürmten zwei von ihnen ins Haus. Von Westen her aufgeregte Rufe. Ein Feuerwehrauto fuhr drüben vor. Was war da los? War Feuer ausgebrochen? Ich sah weder Flammen noch Rauch, und es lag auch kein Brandgeruch in der Luft. Weil die Grenzwächter weiterhin nach oben starrten, wagte ich mich etwas näher heran und bemerkte, dass die Feuerwehrleute ein Sprungtuch ausbreiteten. Als ich den Blick wieder hob, sah ich sie: eine alte Frau, die im dritten Stock auf den Fenstersims geklettert war. Zu springen traute sie sich aber nicht, obwohl die Zuschauer sie anfeuerten. Sie blickte in die Tiefe und dann über die Schulter in ihre Wohnung. Hinter ihr erschien ein Arm in Uniform, der die Frau packte. Die Soldaten versuchten anscheinend, sie vom Fenster wegzuziehen. Die alte Frau setzte sich zur Wehr, verlor das Gleichgewicht und fiel. Fiel neben das Sprungtuch.
Ich hatte den Aufprall nicht gesehen, wohl aber gehört.
Oben steckte ein Soldat den Kopf aus dem Fenster, zog ihn aber gleich wieder zurück.
Die Grenzwächter gestikulierten aufgeregt zu den Lastwagen hin, die sogleich losfuhren, damit die Nachbarn der alten Frau nichts mehr von dem Drama mitbekamen.
Dann bemerkte einer von ihnen mich und gab mir mit einer Gebärde zu verstehen, ich solle machen, dass ich fortkomme. Wie betäubt drehte ich mich um und ging davon.
Tags darauf ging ich wieder zu dem Haus, um mir noch einmal zu vergegenwärtigen, was da geschehen war. Und dass ich einen Plan brauchte, einen wasserfesten Plan. Auf keinen Fall durfte Verzweiflung meine Triebfeder sein.
Schon von Weitem sah ich die Bauarbeiter. Sie trugen Steine und Zement ins Haus, um die nach Westen gerichteten Fenster zuzumauern. Der Kellerschacht war bereits verschlossen. Und damit war die Fluchtmöglichkeit, die ich ins Auge gefasst hatte, dahin.
Ich drehte mein Glas in den Händen und bedauerte, dass ich kein Buch mitgenommen hatte. Es würde noch über eine Viertelstunde dauern, bis Rolf kam, und ich fühlte mich höchst unwohl, weil ich glaubte, Verdacht zu erregen, indem ich allein hier herumsaß. Im Grunde blödsinnig. Denn schließlich war es normal, dass jemand in einer Kneipe saß und auf eine Verabredung wartete. Auf Freunde, auf die Liebste, auf wen auch immer … Dass ich auf meinen Bruder wartete, um unsere Republikflucht zu besprechen, wie es im Stasi-Jargon hieß, konnte keiner ahnen. Dennoch machte ich mir Sorgen. Auch in der Planungsphase auffliegen konnte Zuchthaus bedeuten, zumindest aber den Verlust sämtlicher Zukunftsperspektiven.
Ich schluckte. Wenn ich jetzt schon nervös war, was sollte dann, um Himmels willen, werden, wenn …
Ich nahm einen großen Schluck Bier und versuchte, an etwas anderes zu denken.
Mein Blick glitt über die Fensterscheiben, auf die der Regen feine, schräge Striche zeichnete. Und dann zu den Tischen, die alle besetzt waren. Zur Straßenseite hin saßen zumeist Pärchen, weiter hinten größere Gruppen an langen Tischen zwischen hölzernen Trennwänden. Ich hatte mir einen Platz etwas abseits ausgesucht, damit niemand unser Gespräch mithören konnte.
Die Bedienung eilte geschäftig hin und her, ohne auf mich zu achten. An der Theke linkerhand warteten etliche Leute darauf, dass ein Tisch frei wurde, und ich hoffte, keiner würde auf die Idee kommen zu fragen, ob er sich bei mir dazusetzen könne.
Mein Blick blieb an einer jungen Frau hängen, die an der Theke saß. Sie wandte mir den Rücken zu und wirkte irgendwie isoliert, schien in ihr Glas zu starren. Ihre langen blonden Locken erinnerten mich an Heike.
Ob Heike wohl ahnte, dass ich mich nicht mit der Situation abfinden würde? Dass ich plante, in den Westen zu kommen? Würde sie auf mich warten? Was, wenn sie davon ausging, wir wären auf immer getrennt, und die Hoffnung aufgegeben hatte, mich je wiederzusehen? Dieser Gedanke schnürte mir die Kehle zu.
Wieder nahm ich einen großen Schluck, aber der Kloß im Hals ließ sich nicht wegspülen. Wir mussten uns beeilen, Rolf und ich. Gestern hatte er gesagt, er wüsste vielleicht eine Möglichkeit. Hoffentlich etwas, das sich schnell umsetzen ließ. Es war jetzt schon einen Monat her, dass mit dem Mauerbau begonnen wurde. Jeder weitere Tag, den wir warteten, verringerte unsere Chancen.
Die Türglocke schlug an. Unwillkürlich schaute ich hin und sah Wolfgang Wichser. Was, verdammt noch mal, hatte der hier zu suchen?
Er klopfte erst seine nasse Uniform ab, dann sah er sich um. Ich duckte mich und versuchte gleichzeitig, ihn im Auge zu behalten. Er fuhr sich durch die Haare, knöpfte dann die Jacke auf und kam mit großen Schritten in meine Richtung.
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