Doch er schaffte es auch ein zweites Mal, die Stange mit dem Kinn zu erreichen, hangelte sich von einer Wiederholung zur nächsten, stur sein Ziel vor Augen, nicht bereit, aufzugeben. Irgendwann kam er bei zwanzig an. Noch fünf, motivierte er sich. Aus fünf wurden zehn und noch einmal zehn. Jetzt fehlten nur noch weitere zehn bis zu fünfzig.
Er wusste nicht, wie er sie schaffte, aber er trotzte sie sich mit einem zornigen Stöhnen bei jedem Hochreißen des Körpers ab, bis er fünfzig zählte. Er begriff kaum noch, dass er nun die Stange loslassen konnte. Endlich sprang er.
Die Beine gaben unter ihm nach. Er fand sich auf dem Boden sitzend wieder, schweißüberströmt, während sich eine Hand auf seinen Nacken legte.
»Hol ein nasses Handtuch!«
Alan wollte protestieren, brachte aber keinen Ton heraus.
Graham ließ ihm keine Wahl, drückte ihn zu Boden und winkelte seine Beine an. Alan fühlte ein kaltes Tuch in seinem Gesicht und in seinem Nacken und kam langsam wieder zu sich.
Das Erste, was er erblickte, waren Grahams rote, zusammengezogene Augenbrauen.
»Geht’s wieder, Sir?«, fragte er.
Alan nickte und versuchte sich aufzusetzen, doch Graham hielt ihn fest.
»Sich einmal zu blamieren, das genügt, Sir.«
Ausgezählt.
Alan starrte an Graham vorbei an die Decke und schloss die Augen, lauschte auf seinen Herzschlag, während Graham neben ihm sitzen blieb. Nach einer Weile räusperte sich dieser und berührte Alans Arm.
Wortlos richtete sich Alan auf, wartete darauf, dass der Schwindel verging, um vorsichtig aufzustehen. Er entdeckte Hancock und Jerome in einer Ecke, die kurz zu ihm herübersahen. Ihr Anblick brachte sein Blut zum Kochen.
Ein Schlag von Graham gegen seine Schulter brachte ihn zur Besinnung. Gedemütigt pflückte Alan sein Handtuch auf und flüchtete in den Duschraum.
Als das Wasser über seinen Körper lief, zitterte er vor Scham und Zorn. Idiot , maßregelte er sich selbst. Er war gestern noch auf der Krankenstation gewesen. Glaubte er etwa, auf diese Weise konnte er Hayes oder Mabuto davon überzeugen, dass es richtig war, ihn zu entlassen? Sicher nicht.
Als er das Gesicht dem Wasser entgegen hob, erfasste ihn Schwindel. Er taumelte. Mit einem Keuchen riss er die Augen auf und stützte sich an der Wand ab. Seine Hand betastete den Sender und plötzlich wurde ihm trotz des warmen Wassers kalt.
»Heh, Alan! Siehst du überhaupt aufs Brett?«
Alan zuckte zusammen und sah in Deans Gesicht, der sich ihm über das Schachbrett, das zwischen ihnen auf Deans Bett lag, entgegenbeugte.
Alan war mit einem Mal speiübel. Er sprang auf, sodass die Schachfiguren durcheinander purzelten, und stürmte zum Schott. Davor blieb er stehen und lehnte die Stirn an das Metall. Sein Herz hämmerte gegen seine Brust.
»Es ist aus«, flüsterte er.
»Aus? Wovon redest du da?«
Alan hörte das Quietschen der Federaufhängung, als Dean vom Bett aufstand.
»Aus«, wiederholte er und drehte sich zu Dean um. »Vorbei. Doktor Hayes gibt mir noch maximal zwei bis drei Wochen. Eher weniger.«
Endlich war es heraus.
Dean klappte der Mund auf.
»Aber … ich meine, kann Doktor Hayes denn nichts tun? Warum hat sie dich dann entlassen?«
»Eine Art letzter Gefallen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit.« Nach einem tiefen Atemzug kehrte Alan zum Bett zurück und setzte sich wieder.
Wie erstarrt stand Dean mitten im Raum.
»Scheiße«, sagte Dean nach einer Weile und ließ sich neben Alan aufs Bett sinken. »Scheiße.«
Alan starrte auf das Schott. Jetzt, da er es ausgesprochen hatte, begriff er die Worte in ihrer ganzen Tragweite. Der Tunnel öffnete sich wieder vor ihm, zog ihn hinein, dass ihm schwindelte. Mit einem Keuchen hob er die Hand, um sich die Stirn zu massieren. Stieß auf kalten Schweiß, der ihn ins Schleudern brachte.
Plötzlich fühlte er eine Hand auf seiner Schulter.
»Kommst du klar?«
Alan nickte. Der Sog verebbte.
»Heh, wenn … wenn du Hilfe brauchst oder reden willst … Ich bin da.«
»Ich weiß«, würgte Alan hervor.
Deans Hand drückte Alans Schulter. Bevor Dean loslassen konnte, griff Alan nach Deans Handgelenk und hielt ihn fest. Er brauchte seinen ganzen Mut, um ihn anzusehen. Aber Dean wich seinem Blick nicht aus.
»Danke«, sagte Alan nach einer Weile. Er überwand sich, ließ Deans Handgelenk los und schaffte ein Lächeln.
»Nichts zu danken.«
Die Worte weckten neue Kraft in Alan.
Er musste einige Dinge in die Wege leiten. Bevor es vielleicht zu spät war.
Als die Kommanlage neben dem Schott knackte, lag Alan noch im Bett. Er war schlicht zu müde, um aufzustehen.
»Hier ist Benton«, tönte es aus dem Lautsprecher. »Doktor Hayes möchte Sie auf der Krankenstation sehen.«
Alan wurde mit einem Schlag speiübel. Er starrte an die Decke, bis er endlich begriff, dass Benton ein zweites Mal nach ihm gerufen hatte. Mit einem Stöhnen setzte er sich auf. Sein Quartier schwankte. Eine Hand als Stütze an der Wand wankte er zum Schott, betätigte den Öffnungsmechanismus und blickte auf Bentons Brust.
Verdutzt sah der Pfleger auf Alan herab. »Äh, Sir! Ich warte gerne vor der Tür, bis Sie sich angezogen haben.«
Erst in diesem Augenblick wurde Alan bewusst, dass er nur mit einer Unterhose bekleidet war.
»Was ist los?«
»Doktor Hayes will Sie sofort sprechen. Wegen der Blutwerte.«
»Welche Blu…«
Bevor Alan das Wort beenden konnte, wusste er, was der Pfleger meinte. Seine Hand fand den Sender, der auf seinem nackten Bauch befestigt war. Die Übelkeit verstärkte sich.
»Warten Sie!«
Damit schloss er dem Pfleger das Schott vor der Nase und taumelte einen Schritt zurück in sein Quartier. Er schwitzte.
Aus.
Er rang nach Luft, tastete blind nach seinen Kleidern und zog sich an. Mit bebenden Fingern öffnete er das Schott.
»Ich komme.«
Als sich das Schott hinter ihm schloss, kam sich Alan wie ein zum Tode Verurteilter vor, der zu seiner Hinrichtung gerufen worden war.
»Kommen Sie hierher«, sagte Hayes zu Alan anstatt einer Begrüßung. Ihre Hand wies auf die Behandlungsliege, die Alan schon kannte.
Er biss die Zähne zusammen und setzte sich wortlos auf die Liege.
»Sie können gehen, Mister Benton«, wandte Hayes sich an den Pfleger. Erst als das Schott sich hinter Benton geschlossen hatte, zog Hayes einen Stuhl heran und setzte sich Alan gegenüber. »Ihre Harnstoffwerte sind zu hoch, Mister McBride. Ich muss mir das näher ansehen.«
Alan fröstelte. »Und … was heißt das?«
»Es könnte heißen, dass das eingetreten ist, was ich befürchtet habe.«
Die Zeit stand still. Er sah nichts mehr, hörte nichts mehr, schmeckte nichts mehr, war mit einem Mal blind und taub.
Bis Hayes seinen Arm berührte. »Darf ich?«
Er schreckte zusammen, blickte sie verwirrt an und nickte endlich.
Sie studierte sein Gesicht, tastete seine Wangenknochen ab, schien zu beobachten, wie die Haut unter ihren Fingern nachgab.
»Wie lange haben sie die Ödeme schon?«
Wasseransammlungen?
»Ich … weiß es nicht.«
»Fühlen Sie sich müde, schlapp?«
»Naja, schon«, gab er zu. »Aber ist das nicht normal?«
»In einem gewissen Rahmen schon.«
Und wie sah der aus?
»Ziehen Sie die Jacke aus und drehen Sie sich bitte um. Ich möchte Ihren Rücken abtasten.«
Alan gehorchte. Hayes begann, seinen Rücken abzuklopfen. Als sie die Höhe der Lendenwirbelsäule erreichte, zuckte er zusammen. Sie hielt inne, um sich dann seinen Flanken zu widmen.
»Was machen Sie da?«
»Ihre Nieren abklopfen.« Sie seufzte. »Es fällt mir schwer, es Ihnen zu sagen, aber es deutet bisher alles daraufhin, dass mit Ihren Nieren etwas nicht stimmt. Um sicher zu sein, brauche ich noch einen Scan von Ihnen, eine Ultraschallaufnahme und einige Blutwerte.«
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