Mein Wunsch, direkt mit der Bühne zu interagieren, hat nichts mit dem Traum zu tun, selbst Theater zu spielen. Ich bin weder eine Schauspielerin noch eine Sängerin, und wollte das auch nie werden. Ich hatte vielmehr das Bedürfnis, als Theaterhistorikerin einen anderen Zugang zu diesem historischen Artefakt zu bekommen, um mein Wissen über das ästhetische Potential des Gripsholm-Theaters zu erweitern, um direkt etwas über die historische Praxis dort zu erfahren. Zu meinem Bedauern hatte ich nicht die Möglichkeit, die Gripsholm-Bühne mit den Mitteln einer praxeologischen Theaterhistoriographie experimentell zu erforschen.
Was meine ich mit ‚praxeologischer Theaterhistoriographie‘? Zuallererst geht es hier um einen produktiven Austausch zwischen Theorie und Praxis, um tiefere Erkenntnisse zur Theatergeschichte zu erreichen. Theater war und ist eine flüchtige, transitorische Praxis, die sich nicht durch Text- und Bildquellen vollkommen erschließen lässt. Deshalb bleibt eine Performance-Analyse zeitgenössischer Theater- und Inszenierungspraxis immer unvollständig ohne die Aufführungserfahrung der Analysierenden. Um die Dynamiken, Energieflüsse und kommunikativen Strategien der Theateraufführung verstehen zu können, muss man sie erlebt haben. In der Konsequenz wird von mir als Theaterwissenschaftlerin grundsätzlich erwartet, eine beständige Aushandlung zwischen dem eigenen subjektiven Erleben und der objektivierenden Beurteilungsposition zu führen.
Eine praxeologische Theaterhistoriographie geht davon aus, dass auch historische Theaterpraxen gleichermaßen durch energetische und kommunikative Vorgänge bestimmt waren. Aber wie kann man Zugang zu diesen lange vergangenen Ereignissen und ihren energetischen Strukturen und Prozessen bekommen? Sind nicht ihre Wirkungen lange ausgehaucht, ihre Affektpotentiale verpufft, ihre Interaktionen verstummt?
Ein kritisches und experimentelles Re-Inszenieren historischer Theaterwerke ermöglicht uns zwar nicht die Erfahrung von realer historischer Theaterpraxis, aber dennoch von historisch informierter Theaterpraxis. Daher können diese praktisch-experimentellen Annäherungen an historisches Theater uns doch eine gewisse Idee davon vermitteln, was vielleicht an Bewegungsmöglichkeiten, an Interaktion zwischen Theaterraum und Performance-Praxis, an Akustik, an Energieflüssen, und vieles mehr, im Moment der Aufführung wirksam war. Natürlich erzeugen solche Theaterexperimente für die Theaterhistorikerin eine höchst unverhoffte und ästhetisch genussvolle Situation: Der historische Gegenstand kommt plötzlich zum Leben, und scheint uns auf vielen verschiedenen Ebenen direkt anzusprechen. Aber die Historikerin muss sich hier ähnlichen Herausforderungen stellen wie die Theaterwissenschaftlerin, die zeitgenössische Performance-Praxis analysiert – die Erfahrung der Aufführung und das Involviertsein in die Performance-Praxis verlangen eine ständige Selbstreflexion und Positionierung der eigenen wissenschaftlichen Kenntnis und Epistemologie. Sich auf performative Experimente einzulassen, bedeutet ein Risiko für die gepflegten wissenschaftlichen Glaubenssätze und methodologischen Traditionen. Und – es verlangt von einem, den Genuss des Performance-Erlebnisses ständig mit dem Bestreben nach neuer Erkenntnis und einem besseren Verständnis dessen, was gerade vor sich geht, auszubalancieren.
In meinem Beitrag werde ich mich zwar auf die Theaterpraxis des 18. Jahrhunderts beziehen, im Vordergrund steht jedoch eine grundsätzliche Diskussion der Potentiale und auch der Probleme einer praxeologischen Theaterhistoriographie. Ich möchte hier voranstellen, dass die methodischen Überlegungen in engem Zusammenhang stehen mit dem Forschungsprojekt „Performing Pre-Modernity. Exploring Cultural Heritage through the Drottningholm Court Theatre“2 (2013-2017, gefördert vom schwedischen Riksbankens Jubileumsfond) und den Theaterprojekten, die in diesem Rahmen entstanden sind. Während der Projektlaufzeit wurden akademische und künstlerische Forschung eng aufeinander bezogen, um in einem erweiterten Zugriff auf historische Theaterpraxis eine bessere Vorstellung von der konkreten Theaterperformance in historischen Theatern zu gewinnen. In spezifischen Workshops wurden, vorbereitet durch Forschung an Text- und Bildquellen, einzelne Aspekte wie etwa Klangqualitäten, energetische Prozesse des Raumes, Bewegungsmöglichkeiten, Kostüm und Licht, Beziehungen zwischen Musikperformance und Deklamation/Gesang, exploriert. Hier kam die Expertise der beteiligten Musiker und Theaterforscher zusammen und führte in den jeweiligen Bereichen der Aufführungspraxis und der akademischen Praxis (Lehre, Konferenzen, Textproduktion) durch einen Feedback Loop zu weiteren Erkenntnissen.
Abb. 1:
Feedback Loop zwischen Theorie und Praxis. Graphik: Meike Wagner.
Ich werde mich zuerst mit dem Konzept der ‚Praxeologie‘ auseinandersetzen und einige grundlegende Fragen zum Verhältnis von Praxis und Theorie in der historischen Forschung diskutieren. Anschließend werde ich in einem zweiten Schritt anhand von Praxis-Beispielen aus dem Forschungsprojekt Einzelaspekte eingehender diskutieren. Die Methodik steht mit der Projektarbeit in einer deduktiven Beziehung, d.h. zunächst haben wir auf der Grundlage von diskursiver, dramaturgischer und quellenbasierter Forschung mit den praktischen Projekten begonnen. Die damit verbundenen Problemkomplexe führten zu einer intensiven Reflexion über die Methodik. Dieser Prozess ist jedoch keinesfalls abgeschlossen, die ‚Praxeologie der Theaterhistoriographie‘ stellt eine Versuchsanordnung dar.
Praxistheorie in der Theaterwissenschaft
Das Verhältnis von Praxis und Theorie zur Generierung von Wissen auszuloten, ist in den Geisteswissenschaften kein neues Verfahren. Auch in der Historiographie gibt es schon seit den ersten Versuchen einer disziplinären Ausdifferenzierung der ‚Geschichtswissenschaften‘ immer wieder Bemühungen, durch praktisches Tun Erkenntnisse über frühere Zeiten zu gewinnen. Rückblickend erscheinen uns diese Ansätze in der Theatergeschichte eher rührend und naiv – wenn man etwa die historischen Forschungen der Meininger anschaut oder die studentischen Re-Inszenierungen von antiken Dramen in diversen Fachbereichen zu allen Zeiten etc. Bei der Betrachtung solcher Projekte stellt sich eine gewisse Faszination ein, gleichzeitig aber auch ein gewisses historiographisches Unbehagen. Weil wir vom heutigen Standpunkt aus, diese historiographische Herangehensweise nur als positivistisch bezeichnen können – nämlich als Versuch, eine historische Wissenslücke durch Evidenzschaffung zu schließen: „Seht her, so ist es gewesen!“. Und auch, weil in der Regel diese Art von historischer Rekonstruktion nicht von einer historiographisch-methodischen Reflexion durchdrungen ist. Das Ergebnis muss für sich sprechen und setzt seine Effekte, die eigene historiographische Methodik wird nicht umfassend reflektiert und problematisiert.
Wie soll man nun einen Weg beschreiten, der sich historiographisch auf der Höhe der Zeit bewegt und dennoch das reiche Wissensangebot durch Praxis schöpfen kann? Leichter wird es dadurch, dass die gesamte Geisteswissenschaft und auch die Theaterwissenschaft nun seit mehr als 30 Jahre vom Diskurs des practice turn und des performative turn geprägt ist. Diese Entwicklungen haben neue Reflexionen über das Verhältnis von Theorie und Praxis in Lehre und Forschung angestoßen und befördert. Der britische Theaterwissenschaftler Baz Kershaw, der schon früh den produktiven Austausch zwischen Theorie und Praxis ins Zentrum seiner Lehre und Forschung setzte, bezeichnet dies als eine „Schwindel erregende Durchkreuzung“ der Disziplinen in der Folge des ‚practice turn‘:
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