Bernhard Moshammer - Der mitteleuropäische Reinigungskult

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"Wir sind das souveräne Volk, wir sind Gottes auserwähltes Volk, ein gastfreundliches und weltoffenes. Wir empfangen die Welt mit offenen Armen, zeigen ihr unser Land, zeigen ihr, wie wir aussehen, uns kleiden, sprechen und leben."
Julius Aschmann fühlt sich nach einer mystischen Erscheinung berufen und gründet eine Bewegung, den Mitteleuropäischen Reinigungskult. Die Kultur soll gerettet werden, das bunte Fest der Vielfalt endlich ein Ende haben. Doch Aschmanns Rettungszug scheint über gut besuchte Esoterikmessen und Gasthaushinterzimmer nicht hinauszuführen – bis er auf die charismatische Julia Mantz trifft.
Anton Wagenbach, eben noch preisgekrönter Musikkritiker, trennt sich von seiner langjährigen Freundin und nimmt sich eine Auszeit in Brighton. Er ist von Aschmann fasziniert und will endlich ein Buch über ihn schreiben. Er nützt die Zeit der Recherche für eine Reise zu sich selbst.
Ein kluger und leidenschaftlicher Roman über Politik und die Freiheit der Kunst.
Sehr lesenwert!

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BERNHARD MOSHAMMER

DER MITTELEUROPÄISCHE REINIGUNGSKULT

ROMAN

Der mitteleuropäische Reinigungskult - изображение 1

DAS LOKAL WAR DÜSTER UND DRECKIG, obwohl die Putzfrau, eine Ukrainerin mit Bandscheibenvorfall, erst vor einer Stunde damit fertig geworden war. Über den Möbeln und Wänden schimmerte ein rauer, fast schon pelziger Film im spärlichen Licht. Die von einem künstlichen Zitrusduft erfüllte Luft war eine Wand, eine milchig-trübe Bremse, die dem Besucher das Gefühl gab, in eine andere Klimazone einzudringen. Alles hier war in eine maskuline Mischung aus kaltem Zigarettenrauch, Alkohol, Schweiß, Leere, Frust, Wut und Sehnsucht nach einem anderen Leben getränkt. Keine Putzfrau der Welt, auch keine mit intakter Wirbelsäule, hätte diesen Ort davon befreien können.

Nicht einmal der Mitteleuropäische Reinigungskult wäre dieser Aufgabe gewachsen gewesen.

Die Toiletten waren so ekelerregend, dass Hans das Gefühl nicht loswurde, dass hier nicht etwa gespart oder nur ein zwangloser Umgang mit Hygienevorschriften gepflegt wurde – nein, das hier war das Wahrzeichen einer ganz bewusst gelebten Kultur, einer Antikultur oder, wie die hier Verkehrenden es wahrscheinlich nannten, der einen, wahren Kultur. Hier wurden Zeichen gesetzt und Rituale zelebriert. Die Wände waren so schamlos mit dem Kot der Geschichte, mit offenen Parolen, Zahlencodes und Chiffren vollgekritzelt, dass man Stunden hätte zubringen müssen, um auch nur einen Bruchteil der lausigen Botschaften zu entziffern.

Aber ja, dachte Hans Tellar, als er die Luft anhielt, so war es doch auch richtig, die sollten ruhig im Untergrund hausen und nicht in den Führungsetagen, Bürgermeisterbüros und Machtzentralen. Beinahe hätte er dieses mehr oder weniger respektable Linzer Etablissement gar nicht gefunden, weder war es beleuchtet noch angeschrieben, der Eingang war eine unauffällige, ganz normale Holztür, das Gebäude ein offenbar baufälliges Hinterhofhaus am Stadtrand. Auf einer altmodischen Gastwirtschaftstafel stand unter einem Zipfer-Bier-Logo mit Kreide gekritzelt: EK115.

Hier also würde er heute auftreten, einen kleinen Gig spielen – in einem Nazischuppen bei einem fröhlichen Beisammensein zum hundertfünfzehnten Geburtstag von Ernst Kaltenbrunner.

Dieser Auftritt war das sogenannte Verbrechen, welches ihn schließlich ins Gefängnis brachte, aber wir müssen gleich unterbrechen, dürfen nicht vorgreifen, müssen da anfangen, wo das Ganze begann interessant zu werden. Doch vorweg ein paar Worte zu Tellar, dem einigen Lesern womöglich noch bekannten, österreichischen Künstler.

Hans Tellar machte Musik für niemanden, elektronischen Noise Metal, Postindustrialavantgarderock oder so was – eine lächerliche Bezeichnung, die er selbst nie gewählt hätte –, jenseits von Gut und Böse, konventionellen Geschmäckern und simplifizierenden Kategorien. Sie sei, wie er Anton gegenüber einmal erwähnte, das variable Ergebnis eines lebenslangen Suchprozesses nach etwas Neuem, einer neuen Musikform, die jedoch nicht existiere. Das Beschreiten tatsächlich neuer Wege schien seiner bescheidenen Meinung nach das Privileg des zwanzigsten Jahrhunderts gewesen zu sein. Er präsentierte seine Arbeit zumeist in autoaggressiven Performances im Stil eines Brus, nur nicht archaisch minimalistisch, sondern opulent und, wenn möglich, technisch aufwendig. (Wenn das nicht möglich war, machte er es aber auch ohne – im Gedenken an Schwabs liebe Mariedl, ehemalige Präsidentin von Österreich.)

Er war ein Mann zwischen den Stühlen, ein Genresprenger und beinahe autistischer Ignorant, ein Visionär und dennoch Bewahrer eines hehren Kunstbegriffs. Er war auch kein schlechter Dichter – in Antons Augen war er sogar ein hervorragender, ein wahrer Dichter , was auch immer das heißen mochte. Er war einer von jenen Besessenen, deren Geist flexibel und herrenlos war, die keine Wahl hatten, von dunklen, rauschartigen Zuständen heimgesucht wurden, die sie nicht kontrollieren konnten, aus welchen sie aber die intensivste, verstörendste Kunst herauszupressen vermochten. Intelligente, poetische, unverständliche, gewaltige, manchmal brutale sowie seltsam erotische oder pornografische Litaneien, die neben der eigenen Biografie und der üblichen Weltreflexion oft auch auf die Kunstgeschichte zurückgriffen, die für Anton nur im Ungefähren verborgen lag. Weltkunst , wenn es nach Anton ging, der beeindruckt zu seinem Freund aufschaute. Er selbst hatte nicht studiert, was er zunehmend beklagte, ja bereute. Er meinte festzustellen, dass die Ausbildungslosen in der Welt der Künste weitgehend chancenlos waren, dass nur ganz wenige Ausnahmen es schafften, auch tatsächlich ernst genommen zu werden. Einer wie Hans hingegen konnte alles verkaufen. Wenn er wollte. Hans wiederum beneidete Anton um seinen freien Geist, der unbefleckt und vom Akademischen verschont geblieben war.

Wenn man Hans, also seiner Kunst, irgendetwas vorwerfen konnte, dann vielleicht, dass sie zu künstlerisch, zu jenseitig war, andere Menschen vollkommen exkludierte; die Grenze zur Welt des Alltags, welche Humor, Interesse, Identifikation und Verständnis beheimatete, nicht einmal von hinten kannte. Seine Kunst lag auf unberührtem Land, zu weit entfernt, hatte keine Erinnerung an das Menschliche, oder aber, und das war Antons Lieblingssichtweise, sie war so tief ins Menschliche vorgedrungen, so tief im Menschlichen verankert, dass ihr jegliche Distanz zu ihm fehlte. Das alles kümmerte Hans nicht, was nicht hieß, dass er nicht gern darüber redete oder Antons Meinung dazu hörte, aber er ließ sich davon nicht beeinflussen oder gar bremsen – er hatte, wie gesagt, keine Wahl. Anton hatte schon zwei Mal über ihn geschrieben, hatte ihn einen Monolith genannt, an welchem der monströse Strom der Zeit verzweifeln musste.

Ja, Hans war ein Schöpfer, ein Erschaffer, aber freilich war seine Arbeit keine, die einen Mann ernährte. Für Geld prostituiere er sich, wie er selbst es nannte. So schrieb er Kritiken, führte Interviews mit Musikern, Schauspielern, Regisseuren, Schriftstellern, Youtubern, Influencern, Zeitgeistidioten , wie er sie bisweilen nannte; immerhin war er ein Mann in den späten Vierzigern, verfasste Artikel, Essays und Konzertberichte, machte regelrecht alles.

Was uns direkt zu Anton führt, Anton Wagenbach, von dem im Grunde ohnehin schon die ganze Zeit über die Rede ist. Es ist nämlich so, dass wir, um uns Hans zuwenden zu können, um seine Geschichte zu verstehen, die sich nicht nur um Kunst und Rebellion, sondern auch um eine auf den Kopf gestellte Welt, Nazis und Impotenz dreht, und die ihn schließlich seine Freiheit kosten wird, vorher Antons Geschichte erzählen müssen. Anton Wagenbach, der Nazijäger, der Julius Aschmann verfolgt, gefunden und zur Strecke gebracht hat. Wissen Sie noch? Nein? Umso besser.

Diese Geschichte präsentiert also eine kleine Versammlung mittelalter Männer und Frauen, ihre Gedankenwelten, Erlebnisse, Versuche, Visionen, Verrücktheiten, Vergehen und, nun ja, Verbrechen in jener Phase der Geschichte, die später einmal von manchen als schlafende , von anderen als traurige Ära bezeichnet werden wird, wobei schlafend sich auf die nervöse, sich bereits ins Bewusstsein schleichende Geradenoch-Ruhe vor dem Weckerläuten beziehen muss und mit traurig weder rührselig, sentimental oder gar das Gegenteil von lustig gemeint sein kann, eher glanzlos, verstört, bloßgestellt. Schlaf und Traurigkeit als Nacktheit im Lichte einer Öffentlichkeit ohne Gnade. Alles in allem war es eine ungestüme, überreizte und gefühlsduselige Zeit, die alle überforderte, alles ins Chaos tauchte, alles infrage stellte und noch viel, viel mehr beantwortete.

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