CAROLINE FINK | KARIN STEINBACH
ERSTE AM SEIL
ALLEN, DIE AUF BERGE STEIGEN.
UND DENEN, DIE DAVON TRÄUMEN.
CAROLINE FINK | KARIN STEINBACH
PIONIERINNEN IN FELS UND EIS
Wenn Frauen in den Bergen ihren eigenen Weg gehen
Fast unsichtbar schlüpfte sie den Hang hinauf. Man ahnte nur, dass sich da etwas Entschlossenes und Selbstständiges bewegte, etwas, was so unabhängig war, dass es sich nicht aufzuspielen brauchte .
Tove Jansson
Noch heute ziehen Alpinisten und Alpinistinnen in Ehrfurcht die Augenbrauen hoch und nicken anerkennend, wenn sie vom Teufelsgrat am Walliser Täschhorn reden hören. Lang, elegant und brüchig zieht er sich als scharfe Linie hoch zum 4491 Meter hohen Gipfel. Davon, wie Mary Mummery 1887 mit ihrem Mann, dem Bergführer Alexander Burgener und einem Hilfsführer als Erste über diesen Grat hochkletterte, wissen wir einiges. Zum Beispiel, dass der Hilfsführer nach einem Sturz dank Champagner wieder zu Kräften kam, dass Mary ihm dank ihrer medizinischen Kenntnisse die Diagnose «verdattert, aber nicht verletzt» stellte und auf dem Gipfel so stolz war, dass sie selbst das aufziehende Gewitter nicht störte.
Wir erfahren dies alles, da Mary im Buch ihres Mannes «My Climbs in the Alps and Caucasus» den Bericht über das Täschhorn geschrieben hat – sofern wir das Buch auf Englisch oder Französisch lesen. In der deutschen Version nämlich fehlt ihr Text, was gleichbedeutend damit ist, dass ihre Geschichte im deutschen Sprachraum nicht existiert. Geschichte ist eben das, was wir wissen. Das, was wir nachlesen und weitererzählen, worauf wir uns berufen, wenn wir uns die Vergangenheit vorstellen, um darauf basierend die Gegenwart zu deuten und die Zukunft zu denken.
Bloß: Was wird aufgeschrieben? Was wird weitererzählt, und was dem Ozean des Vergessens übergeben?
Seit Anbeginn des Alpinismus steigen Frauen auf Berge. Doch lange Zeit blieben ihre Geschichten im Verborgenen. Das Bergsteigen war – und ist teils bis heute – eine Domäne der Männer und damit eine Domäne mit einer männlichen Geschichte.
Nichts weniger, als dies zu ändern, haben wir uns vor einigen Jahren vorgenommen. Denn dank großartiger älterer Bücher zum Frauenbergsteigen, dank Recherchen früherer Autoren und Autorinnen, dank Originaltexten und Erzählungen von Bergsteigerinnen wussten wir: Es gibt sie, die Geschichte des Frauenalpinismus. Und so saßen Karin und ich eines Nachmittags auf der Aiguille du Midi oberhalb von Chamonix, in der Hoffnung, uns trotz schlechten Wetters beim Kaffee auf knapp 3800 Meter Höhe ein wenig für den Montblanc zu akklimatisieren. Saßen da und begannen Namen und Daten zu notieren, Epochen zu gliedern und Kapitel zu skizzieren, und mit jedem Kaffee wurde der Konzeptberg vor uns höher. So hoch, dass wir uns abends während der Talfahrt mit der Gondel diesem Buchprojekt gegenüber so klein fühlten wie zwei Nächte später, als wir um ein Uhr morgens das Refuge des Grands Mulets verließen, die Flanken des Montblanc, des Königs der Alpen, über uns.
Die Arbeit an «unserem Frauenbuch» – so hieß es unter uns – begleitete uns drei Jahre lang. Eine Arbeit, eine Reise, die uns manchmal in die Tiefen von Archiven führte, manchmal nach Schottland und China, Österreich, Frankreich oder Italien. Mit Ausnahme von Steph Davis haben wir alle lebenden Frauen getroffen, um uns ihre Geschichten erzählen zu lassen. Geschichten, die uns mal zum Lachen brachten, mal nachdenklich stimmten und immer wieder berührten.
Nun ist es da, dieses Buch über die «Ersten am Seil»: über die ersten Frauen, die sich vor 200 Jahren an das Seil eines Bergführers banden, und über jene, die als Seilschaftsführerinnen und Vorsteigerinnen auf die Berge dieser Welt stiegen und steigen. Insgesamt 26 Frauen aus elf Ländern sind darin porträtiert, und in den Hintergrundtexten, die zwischen diesen Porträts den roten Faden der Alpingeschichte aufzeigen, sind mehr als 200 weitere erwähnt. Um die 230 Namen sind eine Menge, doch sind es längst nicht genug: Je länger unsere Arbeit dauerte, desto mehr begriffen wir, wie viele Frauen Alpingeschichte schrieben und wie wenige von ihnen in diesem Buch Platz finden. In diesem Sinn ist es uns wichtig, an dieser Stelle auch all jenen unseren größten Respekt auszusprechen, deren Namen nicht im vorliegenden Buch stehen können. Jede für sich hat in der Vergangenheit Großartiges geleistet und damit Gegenwart und Zukunft geprägt.
Wir haben dieses Buch gern geschrieben. Ja noch mehr: Es ist uns eine Ehre, die Geschichten inspirierender Frauen erzählen zu dürfen. Wir hoffen, dass es unseren Leserinnen und Lesern Unterhaltung und Freude bereitet. Und überdies dazu beiträgt, zu zeigen, dass die Geschichte des Alpinismus nicht eine Geschichte der Männer ist. Sondern eine Geschichte von Männern und Frauen. Oder vielmehr: eine Geschichte von Menschen, die auszogen und bis heute ausziehen, in Fels und Eis ihr Glück zu finden.
Caroline Fink, für beide Autorinnen
Zürich, im Juli 2013
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EIGENVERANTWORTLICH IN DIE BERGE: FÜHRERLOSE UND FRAUENSEILSCHAFTEN IM FRÜHEN 20. JAHRHUNDERT
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Gegen viele Widerstände ging Helma Schimke bergsteigen – und es hat ihr immer Kraft gegeben
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