William ist entzückt von der Hündin, die mit auf Berge steigt. Er lässt eigens für sie Lederstiefelchen nähen, die Tschingel aber verschmäht, und fertigt für jeden Gipfel der Vierbeinerin ein silbernes Medaillon, das er an ihr Sonntagshalsband hängt. Bald wird Metas Neffe in Alpinistenkreisen bekannt als «the young American who climbs with his aunt and his dog» – der junge Amerikaner, der mit seiner Tante und seinem Hund klettert. Und Tschingel sollte zum bekanntesten Hund der Alpingeschichte werden: Im Lauf ihres Hundelebens unternimmt sie mehrere Hundert Wanderungen und mehr als dreißig große Bergtouren, darunter elf Erstbesteigungen. Sie wird sogar Ehrenmitglied – und damit das einzige weibliche Mitglied – des britischen Alpine Club. Aufgenommen per Akklamation, als Vertreter des Clubs sie auf der Riffelalp antreffen, nachdem sie mit Herrchen und Tante auf dem Monte Rosa gestanden hat.
Ist die Seilschaft Brevoort/Coolidge mit ganzem Anhang in abgelegenen Bergdörfern unterwegs, gibt der Trupp ein seltsames Bild ab: Eine schlanke, große Dame in langem Rock, einen langen Alpenstock in der Hand, ein rundlicher Amerikaner, blass und mit Brille, ein Hund, ein paar bärtige Bergführer und einige mit Seil und Pickeln bepackte Träger. Manche Einheimische halten sie für Goldgräber, andere für Landstreicher. Einmal, im Dorf Vallouise in der Dauphiné, befürchtet ein Gastwirt, sie wären Zauberer, und gewährt ihnen vorsichtshalber keinen Einlass. Coolidge schreibt später dazu: «Man hielt mich schon oft für einen Vagabunden, Arbeiter, Brillenverkäufer, Spion oder Minenarbeiter. Doch dies ist das erste Mal, dass man mich für einen Magier hält!» Obwohl sie in der Dauphiné nicht immer mit offenen Armen empfangen werden, kehren Tante und Neffe immer wieder in dieses Gebiet der französischen Alpen zurück. Besonders die 3983 Meter hohe Meije mit ihren steilen Felsgipfeln lässt Meta nicht mehr los. Den höchsten Punkt dieses Massivs will sie besteigen – nicht als erste Frau, sondern als erster Mensch.
Es ist Ende Juni 1870, als Meta die Erstbesteigung des anspruchsvollen Gipfels in die Tat umsetzen möchte. Zusammen mit William, Vater und Sohn Almer sowie einem weiteren Führer ist die Seilschaft unterwegs. Sie geben alles und mehr: Metas Fersen schmerzen, Vater Almer wird schneeblind, und alle haben sie üble Sonnenbrände. Doch sie schaffen es auf den Gipfel. Allerdings: auf den falschen. Als sie um 12.10 Uhr auf dem sogenannten Pic Central stehen, blicken sie hinüber zum Grand Pic. «Stellen Sie sich den Horror vor, als wir merkten, dass der Gipfel zu unserer Rechten ungefähr gleich hoch ist wie unserer. Christian schätzte, er wäre um die sechs Meter höher», schreibt William. Vater Almer hatte recht: Der Grand Pic ist zehn Meter höher als der Pic Central, auf dem die Erstbesteiger dennoch einen Steinmann errichten, bevor sie absteigen.
Nach diesem Erlebnis lässt der Berg Meta erst recht nicht mehr los. Jahrelang bleibt es ihr Wunsch, auf den Hauptgipfel zu steigen. Als William Jahre später ohne seine Tante in die Dauphiné reist, schreibt sie ihm: «Lieber Will, richte all den lieben, alten Freunden, die du sehen wirst, liebe Grüße von mir aus. Ganz besonders dieser prächtigen Meije und bitte sie, sich für mich aufzuheben.» Ihr Traum bleibt unerfüllt: Im Jahr 1877, acht Monate nach Metas Tod, stehen der Franzose Emmanuel Boileau de Castelnau und die Führer Vater und Sohn Pierre Gaspard auf dem Grand Pic.
Und noch ein Wunsch bleibt Meta verwehrt: jener, die erste Frau auf dem Matterhorn zu sein. Zwar scheinen ihre Sterne gut zu stehen, als sie ein Jahr nach der Meije erneut plant, auf diesen Berg zu steigen. Doch als sie Ende Juli in Zermatt ankommt, ist ihr Traum geplatzt. Die Engländerin Lucy Walker ist ihr zuvorgekommen. Unmittelbar vor Metas Ankunft in Zermatt, am 21. oder 22. Juli – die Quellenlage ist unsicher –, hat die junge Britin als erste Dame den Gipfel des Matterhorns erreicht. Meta ist enttäuscht, lässt sich aber nicht unterkriegen. Am 5. September traversiert sie als erste Frau das Horn von Zermatt ins italienische Breuil, und in den folgenden zwei Wochen steht sie als erste Frau auf dem 4506 Meter hohen Weißhorn und der 4357 Meter hohen Dent Blanche sowie auf der wuchtigen Felspyramide des Bietschhorns.
Über ihre Tour auf das Bietschhorn schreibt sie einen Text, den sie unter dem Namen von Coolidge – eine Publikation als Frau ist zu ihrer Zeit undenkbar – im britischen «Alpine Journal» veröffentlicht. Ein Text voller Anekdoten und Geschichten, in dem sie beschreibt, wie sie auf einem Pferd ins Lötschental reitet und spät abends «halb verhungert» ankommt. Wie der Gastwirt dort «ein ganzes Eichhörnchen» serviert und sie einen lieben Hund treffen, der ganz wie Tschingel aussah, «außer dass er viel dümmer war». Und auch den Aufstieg erzählt sie in all seinen Facetten. Schreibt von alten Nadelwäldern, durch deren Geäst die Sonnenstrahlen fließen, und vom eisigen Wind im Gipfelaufstieg, der ihnen «gnadenlos in die Nase, Ohren und Finger beißt».
Auf dem Gipfel angelangt, ist sie tief beeindruckt davon, was sie zwischen Wolkenfetzen sieht: «Überall Felszacken, zerborsten in alle möglichen Formen, mal ineinander gestapelt, mal nebeneinander geworfen in einem fantastischen Durcheinander.» Doch damit nicht genug. «Die Sonne schimmerte grell durch den Nebel, wie ein glimmender Feuerball. Dann, auf einmal entdeckten wir einen runden Regenbogen vor uns, in dessen Mitte wir selbst projiziert waren. Es schien nicht von dieser Welt zu sein, als wir die gigantischen Schattenfiguren sich genau so bewegen sahen, wie wir uns bewegten.» Meta hatte ein Brockengespenst gesehen, einen optischen Effekt im Nebel.
Dank Metas Text wissen wir auch, dass danach keine Zeit mehr bleibt, die hochalpine Umgebung zu betrachten. Im Abstieg holt das schlechte Wetter die Seilschaft ein. Nachdem sie den Grat abgeklettert sind, stapfen sie in Sturm und Schnee über den Nestgletscher. Frei von Heldenpathos schildert die Alpinistin diesen Moment und betont, wie sie einzig dank der Almers am Rand des Gletschers eine Felsgrotte finden. In dieser übernachten sie. Ohne Decken und ohne Proviant, dafür mit Christian Almer, der die ganze Nacht lang jodelt, damit keiner im Schlaf zu erfrieren droht.
Sie muss zäh gewesen sein, diese frühe Pionierin der Alpen. Je mehr Erfahrung sie hat, desto anstrengendere Touren unternimmt sie. So gehört sie drei Jahre nach ihrer Bietschhorn-Besteigung zu jener Garde, die den Winteralpinismus vorantreibt. Eine Spielart des Bergsport, die damals neu war und als besonders verwegen galt. Meta steigt als erster Mensch im Winter auf das Wetterhorn bei Grindelwald und eine Woche später auf die Jungfrau. Als sie im Sommer 1876 auf der Belalp weilt und Williams kränkliche Schwester Lil pflegt, beginnt Meta gar vom Everest zu träumen. Dies dank eines Ehepaars namens Walker, das im selben Hotel weilt, in Indien lebt und ihr eine Menge vom höchsten Berg der Erde erzählt.
Für Meta ist der Everest kein Hirngespinst, sie erwägt tatsächlich eine Expedition in den Himalaja. Von den Walkers will sie jedes Detail zum Berg erfahren und schreibt ihrem Neffen in einem Brief: «Mr. Walker meinte, die Geographical Society würde uns unterstützen, falls wir einen Versuch am Everest unternehmen.» Sie ist mit dieser Idee ihrer Zeit weit voraus. Es sollte 46 Jahre dauern, bis die Briten 1922 eine erste erfolglose Everest-Expedition unternehmen, und 77 Jahre, bis Sir Edmund Hillary und Tenzing Norgay 1953 schließlich auf dem Dach der Welt stehen – ob die Briten George Mallory und Andrew Irvine 1924 vor ihrem Tod den Gipfel erreichten, bleibt bis heute offen. Doch im Dezember 1876 aber finden alle Pläne Metas ein Ende. In ihrem Haus im englischen Dorking erkrankt sie an akutem rheumatischem Fieber, infolge einer Streptokokkeninfektion. Die Entzündung greift ihr Herz an, und fünf Tage später stirbt sie. Hündin Tschingel wird sie um drei Jahre überleben, bevor auch sie – alt, mit grauer Schnauze und blind – vor dem Küchenfeuer für immer entschläft. William wird die beiden Seilgefährtinnen zeit seines Lebens vermissen, das Erbe seiner Tante aber jahrzehntelang fortführen. Als einer der wichtigsten Bergsteiger der viktorianischen Zeit wird er in die Geschichte des Alpinismus eingehen, bevor er als alter Mann, kauzig und stur, im Jahr 1926 die Welt verlässt. fin
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