Und gleich noch eine weitere wichtige Frauenbergtour fand 1838 statt: jene von Marie Karner, die in Südtirol beinah auf den 3905 Meter hohen Ortler stieg. Anders als Henriette d‘Angeville und Anne Lister war Marie Karner eine einfache Magd aus Prad am Stilfser Joch. Wie die Publizistin Ingrid Runggaldier recherchierte, hatte die damals Sechzehnjährige den Gipfel zwar knapp verfehlt; in vielen Quellen gilt sie dennoch bis heute als «erste Frau auf dem Ortler».
Eine Entwicklung, die unter anderem zum Aufschwung des Bergsteigens in den Alpen führte, war der aufkommende Alpentourismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Besonders wohlhabende Briten aus der sogenannten leisure class – jener Schicht, die sich Freizeit leisten konnte – entdeckten die Westalpen als Reiseziel. In der Folge entwickelten sich einfache Bergdörfer wie Chamonix, Grindelwald oder Zermatt zu wichtigen Tourismusorten, in denen mit der Zeit Gasthäuser und Hotels entstanden.
Ein Buch, das einen schönen Einblick in diese Epoche der Alpenreisen gibt, ist das 1859 publizierte Buch «A Lady‘s Tour Round Monte Rosa» der Engländerin Eliza Robinson Cole. Unter dem Namen Mrs. H. W. Cole – britische Frauen traten öffentlich oft unter dem Namen ihrer Ehemänner auf – fand sie in ihrer Heimat eine breite Leserschaft und inspirierte manche Leser und Leserinnen zu einer Reise in die Berge. Wenn auch nicht eine Alpinistin im engeren Sinne, beschrieb sie in amüsanter und kurzweiliger Weise, wie sie etwa auf das Walliser Eggishorn stieg und alpine Pässe wie die Gemmi, den Griespass oder den Monte-Moro-Pass traversierte.
DAS GOLDENE ZEITALTER DES ALPINISMUS
Vorangetrieben vom Tourismus und mehrheitlich englischen Alpinisten, begann in der Zeit von Mrs. Cole der Aufschwung des Alpinismus: das sogenannte Goldene Zeitalter. Hohe und technisch anspruchsvolle Alpengipfel wie der Eiger wurden in dieser Zeit einer um den anderen erstbestiegen, wobei das wissenschaftliche Interesse langsam von Pioniergeist und Abenteuerlust abgelöst wurde. Im Jahr 1865 erreichte die Goldene Ära ihren Kulminationspunkt und gleichzeitig ihr Ende: mit der Erstbesteigung des Matterhorns durch Edward Whymper.
In diesen Jahren wurden die ersten Alpenclubs gegründet, so etwa der Alpine Club in London im Jahr 1857, der Oesterreichische Alpenverein OEAV 1862 sowie der Club Alpino Italiano und der Schweizer Alpen-Club SAC im Jahr 1863. Im Alpine Club waren Frauen von Beginn an ausgeschlossen. In der Schweiz debattierten die Männer über dreißig Jahre lang darüber, ob Frauen zugelassen sein sollten oder nicht. Erst 1907 wurden sie ausdrücklich ausgeschlossen.
AUCH BEI DEN FRAUEN: DER TANZ UMS MATTERHORN
In dieser Goldenen Zeit betraten ambitionierte Bergsteigerinnen die Bühne des Alpinismus, die bekanntesten von ihnen die Britin Lucy Walker(1836–1916) und die US-Amerikanerin mit britischer Wahlheimat Meta Brevoort(1825–1876; siehe Seite 11f.). Sie waren nicht minder interessiert daran als die Männer, als Erste auf einem namhaften Gipfel zu stehen. Für manche Erstbesteigung waren sie indes ein paar Jahre zu spät dran: Bei vielen Gipfeln waren ihnen die männlichen Kollegen zuvorgekommen. Während der Goldenen Ära konzentrierten sich die Damen deshalb in erster Linie darauf, die großen Gipfel der Alpen als erste Frau zu besteigen.
Wie bei den Herren auch, galt das Matterhorn dabei als schönste aller Trophäen. In der zweiten Hälfte der 1860er-Jahre waren denn auch verschiedene Frauen am bekannten Berg unterwegs, unter anderem Meta Brevoort, Isabella Straton(1838–1918) und deren Freundin Emmeline Lewis Lloyd(1827–1913). Am 22. Juli 1871 war es so weit: Ein Telegramm aus Zermatt erreichte die Zeitungsredaktionen. Lucy Walker hatte es geschafft. In weißem Flanellkleid war sie wahrscheinlich gleichentags, allenfalls einen Tag zuvor – die Quellenlage ist uneinheitlich – als erste Frau auf dem Gipfel gestanden. Meta Brevoort reiste einen Tag später in Zermatt an und hörte die «shocking news». Am selben Abend trafen Lucy und Meta sich zum ersten und einzigen Mal in ihrem Leben. Noblesse oblige: «There were congratulations», heißt es in den Quellen dazu.
Lucy Walker und ihr Führer Melchior Anderegg in Zermatt, als ihre alpinistischen Karrieren längst beendet waren .
(aus: Cicely Williams: Women on the Rope. The Femsdinine Share in Mountain Adventure. George Allen & Unwin, London 1973)
Im Jahr 1870, ein Jahr vor Lucy Walkers Erfolg am Matterhorn, lässt sich die Familie Walker ablichten: Lucy mit Alpenstock steht in der hinteren Reihe, rechts von ihr Führer Melchior Anderegg, ganz links Führer Jakob Anderegg. Sitzend vor ihr posieren ihr Bruder Horace Walker sowie ihre Eltern Frank und Jane Walker .
(aus: The Alpine Journal, Vol. 31, 1917)
Während die Blicke vieler auf das Matterhorn gerichtet waren, fanden nicht weit davon stillere Pioniertaten von Frauen statt. Etwa jene der Schwestern Ellen Pigeon(1836–1902) und Anna Pigeon(1832–1917), die zwischen 1869 und 1876 insgesamt 63 große Bergtouren unternahmen. In die Geschichtsbücher eingegangen sind die beiden vor allem durch ihre Überschreitung des Seserjochs im August 1869, einer 4296 Meter hoch gelegenen Scharte im Monte-Rosa-Massiv, die sie als Erste von Zermatt her kommend Richtung Alagna überwanden. Dabei waren sie durch ein Versehen ihres Führers überhaupt erst in dieses hochalpine Abenteuer geraten – dieser hatte das Seserjoch mit dem Lisjoch verwechselt. Nachdem der Führer im Abstieg weiter versagte, übernahm Ellen die Führung. Eine Rolle, die sie vielleicht gewohnt war, sollen sie und ihre Schwester doch – sehr ungewöhnlich für diese Zeit – teils führerlos im Gebirge unterwegs gewesen sein und anstatt langer Alpenstöcke als erste Damen moderne Eispickel verwendet haben. Nach ihrer fast 18-stündigen Tour de Force am Seserjoch zweifelten viele männliche Kollegen an ihrer Leistung und mutmaßten, sie hätten sich im Joch getäuscht. Erst nachdem Giuseppe Farinetti, Pfarrer und Bergsteiger aus dem nahen Alagna, in mehreren Schreiben bezeugt hatte, dass es sich um keine andere Route handeln konnte, erhielten die Pigeon-Sisters die gebührende Anerkennung für die Tour.
DEM GESELLSCHAFTLICHEN ANSEHEN ZULIEBE: SCHWEIGEN STATT SCHREIBEN
Was das Verfassen eigener Tourenberichte anging, so traten die Frauen selten ans Licht: Einerseits fürchteten sie um ihren Ruf als Damen, andererseits verweigerten Zeitschriften wie jene des Alpine Club teils Publikationen von Frauen. Oft publizierten sie gar nicht oder unter falschem, männlichem Namen, was dazu führte, dass viele ihrer Leistungen vergessen gingen oder zumindest schwieriger zu rekonstruieren sind als bei ihren Kollegen.
Offener publizierten jene Frauen, die sich beim Schreiben stärker auf das Reisen konzentrierten und deren alpinistische Erfolge nicht im Vordergrund standen: etwa die Britin Emma Catherine Forman(geb. 1832), die als erste Frau im August 1857 auf die Dufourspitze stieg und den Band «Journals of Trips in Switzerland and Letters from John Ruskin, 1853–1857» mit veröffentlichte. Oder aber Jane Crawford Freshfield(1814–1901), die Mutter des späteren Präsidenten des Alpine Club, Douglas Freshfield, die den Band «A Summer Tour in the Grisons and the Italian Valleys of the Bernina» publizierte.
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