Als er den Blick hob, war Schwester Ursula neben einer Tür stehen geblieben.
Mit einer Geste hielt sie ihn zurück, dann näherte sie sich der Tür. Eberhart sah, wie sie noch einmal ihr Amulett berührte und tief einatmete. Dann öffnete sie die Klappe.
»Joachim? Du hast Besuch. Denk an unsere Regeln. Kein Schreien, kein Berühren. Bist du bereit, jemanden zu empfangen?« Keine Antwort war zu hören, aber Schwester Ursula schien zufrieden. Sie drehte sich um und nickte Eberhart zu. Dann verschloss sie die Klappe und holte einen Schlüsselring aus den Tiefen ihres Habits hervor. Zielsicher griff sie einen Schlüssel und steckte ihn ins Schloss. Sie zögerte ein letztes Mal, dann drehte sie den Schlüssel zweimal herum, ließ den Bund wieder verschwinden und wandte sich an Eberhart.
»Ich werde die Tür hinter Euch verschließen. Ihr habt zehn Minuten, dann öffnen wir sie wieder. Währenddessen seid Ihr auf Euch allein gestellt.«
»Und wenn er – oder ich – Hilfe brauchen?«
Sie sah ihm tief in die Augen.
»Dann sei Churuns Gnade mit Euch.« Mit diesen Worten schob sie ihn durch die Tür und verschloss sie hinter ihm. Eberhart starrte noch einen Moment auf die Tür und sinnierte, warum der Klerus seine Auftritte immer derart übertreiben musste. Dann drehte er sich um und betrachtete die Zelle, in der er jetzt eingesperrt war. Der Raum war überraschend gut eingerichtet. Es gab ein Bett, einen Schrank, sogar einen kleinen Schreibtisch und zwei Stühle. Es sah alles in allem mehr aus wie ein Zimmer in einem hochklassigen Gasthaus als die Zelle eines gefährlichen Irren.
Auch der Insasse wirkte alles andere als bedrohlich. Er war schlank, feingliedrig und hochgewachsen. Sein blondes, fast weißes Haar war schulterlang und fiel ihm lose auf die Schultern und ins Gesicht. Er saß leicht nach vorne gebeugt und studierte konzentriert ein Buch, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Seine schlanken Finger waren auf dem Tisch gefaltet, nur der rechte Zeigefinger tippte in einem unregelmäßigen Takt auf und ab.
Eberhart wollte gerade zu einer Begrüßung ansetzen, da hob der Mann die rechte Hand. Eberhart zögerte. Er musterte den jungen Mann genauer. Durch die Haare konnte er seine Augen nicht sehen, aber die schmalen Lippen bewegten sich leicht, schienen die Worte zu formulieren, die er las. Der erhobene Finger war mit Tinte befleckt, als hätte er noch vor Kurzem etwas niedergeschrieben oder einen frischen Text korrigiert. Auch seine weiße Robe trug den einen oder anderen Tintenfleck, wenn auch größtenteils verblasst, als hätten sie sich gerade so gegen die Waschseife durchgesetzt. Das Handgelenk entlang zogen sich ein paar dünne, weiße Streifen – Narben? Eberhart versuchte, einen Blick auf den Text zu erhaschen, aber die Schriftzeichen waren ihm unbekannt.
Schließlich hob Joachim den Blick, und die Intensität ließ Eberhart erschauern. Die tiefblauen, fast schwarzen Augen lagen unter schmalen Brauen, die fragend erhoben waren. Die Pupillen waren geweitet, als hätte er getrunken oder Rauschkraut genommen, und sie schienen so tief zu sein wie eine Lagune, an deren Grund ungeahnte Monster lauerten.
Im ersten Moment wusste Eberhart nicht, ob dieser Blick ihn wahrnahm, denn er schien nicht auf ihn fokussiert zu sein, aber dann wurde ihm klar, dass Joachim ihn irgendwie als Ganzes wahrnahm – dass er etwas sah, das weit über Eberharts Äußeres hinausging. Als würde er nicht nur auf ihn, sondern in ihn hineinschauen.
Eberhart fühlte sich so bloßgestellt wie noch nie in seinem Leben. Unwillkürlich wollte er den Blick abwenden, sich verstecken, aber der Blick hielt ihn gefangen. Der Händler konnte nicht sagen, wie viel Zeit verging – es hätte eine Sekunde oder eine Ewigkeit sein können –, aber schließlich erlöste Joachim ihn.
»Was führt Euch hierher, mein Freund?« Seine Lippen wölbten sich zu einem Lächeln, und Eberhart ging das Herz auf. Er fasste sich und trat ein paar Schritte an den Schreibtisch heran.
»Ich bin hier, um Euch zu befreien, Herr von Schwertwall.« Er hatte die Stimme verschwörerisch gesenkt »Ihr habt Freunde jenseits dieser Mauern, die Euch helfen wollen.«
Eberhart hatte mit vielen Reaktionen gerechnet, aber nicht mit schallendem Gelächter. Joachim warf den Kopf in den Nacken und lachte aus vollem Herzen. Unwillkürlich fiel er mit ein, denn die Freude war so rein, so spontan, dass er nicht widerstehen konnte. Er musste sich auf dem Stuhl abstützen und ihm schossen die Tränen in die Augen. Als sie sich wieder gefasst hatten, stand Joachim auf und kam zu ihm herüber.
»Danke, mein Lieber. Ich habe lange nicht mehr so lachen können. Schon allein dafür schulde ich Euch meine Zeit. Aber jetzt im Ernst – was wollt Ihr von mir? Wir wissen beide, das meine Familie da draußen keine Freunde hat – zumindest keine, mit denen ich irgendetwas zu tun haben will. Also?« Er legte Eberhart eine Hand auf die Schulter und blickte ihm unverwandt ins Gesicht.
Der Händler war einen Moment überrascht, aber dann schlugen seine Instinkte Alarm. Das war ein klassischer Trick, den er gerne selbst anwandte, um Leute in die Defensive zu drängen. Also fasste er sich und erwiderte den Blick dieser faszinierenden blauen Augen. »Entschuldigt, aber ich mache keine Scherze. Ich bin im Auftrag einer Person hier, die Eure besonderen Talente schätzt und bereit ist, Euch ein äußerst lukratives Angebot für Eure Unterstützung zu machen. Darüber hinaus, dass wir Euch hier herausholen, natürlich.«
Joachim lächelte weiterhin. »Setzt Euch doch erst mal, mein Freund. Wir müssen, glaube ich, ein paar grundsätzliche Missverständnisse klären. Wie darf ich Euch nennen?« Er ging zurück zu seinem Stuhl und setzte sich.
Eberhart nahm ebenfalls Platz und stellte sich vor. »Eberhart Brettschneider, Freihändler, Entdecker und neuerdings Abenteurer.« Er lehnte sich zurück. »Und was hat meine Auftraggeberin mir verschwiegen?«
Joachim legte die schlanken Hände zusammen und schaute ihn amüsiert über die Fingerspitzen an. »Nun, zunächst einmal muss ich nicht befreit werden. Ich bin freiwillig hier.«
Eberhart stutzte. »Warum, in Loknars Namen, sollte man sich freiwillig einsperren lassen?« Er dachte kurz nach. »Seid Ihr auf der Flucht? Versteckt Ihr Euch vor jemandem?«
Joachim hob anerkennend eine Augenbraue.
»Gut kombiniert. Ich bin gespannt, ob Ihr auch noch darauf kommt, vor wem ich mich verbergen will.«
Eberhart strich sich über den Mund und tippte sich mit einem Finger auf die Nase. »Nun, Ihr habt erwähnt, dass Ihr mit den Freunden Eurer Familie nichts zu tun haben wollt. Ich gebe zu, das meine Recherchen nicht allzu viel über die Schwertwalls ergeben haben. Euer Vater hat eine kleine Burg im südlichen Reichswald, aber Ihr habt Euch schon früh von ihm distanziert. Stattdessen seid Ihr in den Dienst der weißen Zunft eingetreten.« Er deutete auf das Zeichen, das auch seine Robe zierte. »Nimmt Euer Vater Euch das vielleicht übel? Möglich, aber Ihr habt ihm ja schon mit dem Ablehnen Eures Erbes vor den Kopf gestoßen, also habt Ihr vor ihm keine Angst. Oder ist es etwas, das Euch im Dienste der weißen Zunft widerfahren ist? Vielleicht ein unglücklicher Nachkomme, der Euch den Tod eines Verwandten nachträgt?«
Eberhart schüttelte den Kopf. »Nein, die Weiße Zunft kümmert sich für gewöhnlich um solche Probleme. Sonst wäre sie kaum so erfolgreich, was die Verdrängung der Schwestern der Churun angeht. Was uns zu Eurem selbstgewählten Exil führt.«
Er machte eine Geste, die das Sanatorium selbst umfasste. »Versteckt Ihr Euch etwa vor Eurer eigenen Gilde?« Er schaute sich kurz im Raum um. »Zweifelhaft – Ihr hättet zumindest eine Reaktion gezeigt, als ich in den Roben der weißen Zunft hier hereinkam – oder die Schwestern hätten mich gar nicht erst hergeführt.« Er beugte sich vor und zählte an seinen dicken Fingern ab. »Nein, wenn ich alles berücksichtige: Dass es keine wirklichen Verdächtigen gibt und sich meine Auftraggeberin geweigert hat, mir die genauen Talente zu beschreiben, wegen derer sie Euch braucht, und die Schwestern ein unfassbares Brimborium um Euch gemacht haben, führt mich zu einer klaren Schlussfolgerung.« Er deutete auf Joachims Brust. »Ihr versteckt Euch vor Euch selbst.«
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