1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 Was immer im Reich der Hexen vor sich ging, wenn die Biester sich tatsächlich bis hierher wagten, ohne dass sie jemand daran hinderte, musste es übel sein. Übel und gefährlich. Vielleicht war auch mein Versteckspiel an der Oberfläche in Gefahr?
Ich atmete aus. Sobald Donnerdrachen in den Gebieten der Menschen auftauchten, war jedenfalls nichts und niemand mehr sicher. Erst recht nicht jemand wie ich. Falls ich weiter unentdeckt bleiben wollte, musste ich also dringend herausfinden, was los war. Um meine Tarnung anzupassen und mich notfalls wenigstens verteidigen zu können …
In geduckter Haltung schlich ich hinter dem Auto entlang und sprintete kurz darauf in den schmalen Durchgang zwischen dem Schulgebäude und der Sporthalle. Hier gab es einen weiteren Eingang, der zum Sekretariat und zum Lehrerzimmer führte. Doch wenn man weiterging, gelangte man auf den Schulhof, und zwar aus genau entgegengesetzter Richtung zu den sich vorarbeitenden Feuerwehrmännern.
Auch hier lagen überall Dachziegel herum. Ganz zu schweigen von all den Bäumen und den Trümmern der zerschmetterten Tischtennisplatte. Ich kam nur langsam voran, musste den Kopf einziehen und klettern und riss mir die Hände an gesplittertem Holz und Steinen auf. Außerdem hielt ich immer wieder inne, um die Spuren der Donnerdrachen genauer zu betrachten.
Dabei fand ich nicht nur Kratzer, sondern auch Klauenabdrücke im Asphalt, als wäre dieser unter der Hitze eines Blitzes geschmolzen. Herrje, das da an der Tribüne des Sportplatzes, waren das etwa … Bisse? Und wieso, bei allen Kesseln, war der Ascheplatz so aufgewühlt, als hätte ein Maulwurf von der Größe eines Elefanten dort die Erde umgegraben?
Ich hatte davon gehört, dass Donnerdrachen auf hoher See zuweilen in Horden lebten. Aber unser Schulgelände erweckte nicht den Eindruck, als hätten die Biester auf der Durchreise nur eine Rast eingelegt. Nein, die Spuren erzählten eine andere Geschichte. Und auch wenn ich inzwischen gar nichts mehr verstand, nicht den blassesten Schimmer hatte, was das alles bedeutete, eines stand fest: Hier hatte es einen Kampf gegeben.
Und das machte mir eine Heidenangst.
Im Näherkommen erkannte ich, dass die Ränge am Rand des Sportplatzes nicht nur von Bissspuren gezeichnet, sondern darüber hinaus auch komplett niedergerissen worden waren. Wieder und wieder mussten die Donnerdrachen nach den hölzernen Bänken geschnappt haben. Die Sitzflächen waren kaum noch zu erahnen, selbst der Beton darunter war an vielen Stellen aus der Verankerung gerissen worden. Doch was hatte die Biester zu dieser Zerstörung getrieben? War es schlichte Raserei gewesen oder hatten sie dort gar etwas gesucht?
Ich bemerkte die Bewegung zunächst nur aus dem Augenwinkel. Jemand regte sich zwischen den Trümmern zu meiner Linken, etwa auf halber Höhe des Schuttberges, der einmal die Westtribüne gewesen war. Holz knackte, Betonkrümel rieselten zu Boden. Der Jemand hatte eher die Größe eines Menschen als eines Donnerdrachen.
Dennoch war mein erster Impuls natürlich zu fliehen.
Blindlings wirbelte ich herum und stürzte zurück in den schützenden Schatten zwischen den Gebäuden. Dort atmete ich tief durch, bevor ich vorsichtig um die Ecke lugte und den Jungen von gestern erkannte: Es war der kleinere der beiden Hexer, die den Donnerdrachen erlegt hatten. Er kroch gerade mitten aus einem Haufen Schutt hervor. Staub klebte in seinen Haaren, seine Kleidung hing in Fetzen an seinem mageren Körper und wo die dunklen Flecken auf dem Stoff herkamen, wollte ich lieber gar nicht erst wissen. Ächzend machte der Junge sich sogleich an einem der größeren Trümmer zu schaffen und versuchte, ihn zu bewegen. Jedoch ohne Erfolg.
War das, was die Donnerdrachen gesucht hatten, womöglich immer noch dort?
Mit aller Kraft zog und zerrte der Hexer nun an dem Ding, das vielleicht einmal Teil der Betonstufen in der Mitte der Tribüne gewesen war. Sein Kopf wurde vor Anstrengung unter all dem Schmutz rot. »Komm schon«, knurrte er. »Komm schon!«
Seine Stimme wirkte noch kindlicher als sein Äußeres. Tatsächlich verwandelte sich sein Knurren nach einer Weile in eine Art wütendes Schluchzen.
Ich konnte derweil nicht anders, als mich ein Stück aus meiner Deckung zu wagen und ihm zu nähern. Der Kleine hatte mir ohnehin den Rücken zugewandt und ich musste einfach wissen, was genau er da eigentlich vorhatte. Als Hexer hätte er schließlich den Wind herbeirufen können, um das schwere Trümmerstück zu bewegen. Doch er tat es nicht.
Stattdessen mühte er sich immer verzweifelter ab. »Beweg dich endlich«, raunzte er den Betonbrocken an. »Verdammt! Du musst durchhalten, Aaron! Ich hole dich raus. Hör nur nicht auf zu atmen, ja?«
Aaron? War das der zweite Hexer, dieser große, dunkelhaarige Typ? Hatte der Schutt ihn begraben?
Wie immer, wenn anderen Gefahr drohte, legte irgendetwas in meinem Innern einen Schalter um, der all meine Vernunft, all meine Vorsätze binnen eines Wimpernschlags verpuffen ließ. Eine Eigenschaft, die mich mehr als einmal in Schwierigkeiten gebracht hatte. Ich sollte es inzwischen also wirklich besser wissen …
»Brauchst du Hilfe?«, hörte ich mich trotzdem bereits im nächsten Augenblick fragen.
Der Junge fuhr herum. »Ja, bitte!«, sagte er. »Kannst du mal mit anfassen? Mein Freund ist hier eingeklemmt.«
Ich stieg die letzten Meter zu ihm hinauf und entdeckte eine fast schwarze Haarsträhne zwischen den Holzsplittern. Ja, das musste der andere Hexer sein, eindeutig. Und offenbar blutete er, denn um die Strähne hatte sich eine glitschige rote Pfütze ausgebreitet.
»Ist er bei Bewusstsein?«, fragte ich, während ich meine Arme um den Betonbrocken schlang.
»Nein. Aber zumindest atmet er noch«, meinte der Junge. »Jedenfalls hoffe ich das«, fügte er düster hinzu.
»Okay«, sagte ich. »Bist du bereit? Dann bei drei. Eins – zwei – drei!«
»Drei!«, presste auch der Junge hervor.
Gemeinsam schafften wir es, den Brocken ein Stück anzuheben und schließlich von Aarons Brustkorb zu rollen. Zum Vorschein kamen ein von einer dicken Staubschicht bedecktes, auffallend ebenmäßig geschnittenes Gesicht sowie noch mehr Blut. Das Hemd des Hexers war zerrissen und seine muskulöse Schulter zierten grauenvolle Zahnabdrücke. Noch immer sickerte dunkles Rot aus der Wunde, bei jedem Herzschlag ein bisschen mehr. Eines der Ungeheuer musste ihn erwischt haben. Es war ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte (und dass der Arm noch dran war). Doch seine Brust hob und senkte sich tatsächlich in regelmäßigen Abständen und außer der Bisswunde konnte ich keine weiteren Verletzungen erkennen.
»Ich rufe einen Krankenwagen«, sagte ich und kramte mein Handy hervor. Es war eines dieser uralten Teile, die man aufklappen und mit echten Tasten bedienen musste. Und ich brauchte immer noch erschreckend lange, um es zu benutzen. Die moderne Technik der Menschen war für mich nämlich fast genauso schlimm wie ihr leerer Himmel. Einfach komplett unverständlich. Ich starrte auf das Display und versuchte, mich daran zu erinnern, wie man das Mistding entsperrte.
»Nein«, meinte derweil der Kleine. »Danke, ich kümmere mich schon um ihn. Er … kann Krankenhäuser nicht leiden.«
»Aber die Wunde sollte unbedingt versorgt werden«, murmelte ich, den Blick immer noch auf das Handy in meiner Hand gerichtet. Musste man erst die Raute drücken oder …? Auch ich bezweifelte zwar, dass man in einem Menschenkrankenhaus wusste, wie man den Biss eines Donnerdrachen behandelte, aber offiziell hatte ich ja keine Ahnung, was diese beiden Jungen waren, geschweige denn, welche Art von Bestie sie angegriffen hatte. Und vielleicht war ja doch einer der Ärzte eingeweiht und konnte irgendwie gefrorenen Meerschaum organisieren?
Jedenfalls hatte ich mich bereits viel zu weit vorgewagt, indem ich überhaupt nur mit dem Kleinen redete. Unter allen Umständen musste er mich weiterhin für ein gewöhnliches Menschenmädchen halten und Menschen riefen eben Krankenwagen.
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