„Oh Gott, der Arme“, flüsterte Willi, „wir müssen ihm helfen!“ Florian nickte. Sie näherten sich dem Jungen und hoben ihn behutsam auf. Sehen konnte der Kleine sie zwar nicht, aber er spürte, dass er mit einem Mal die Kraft hatte, sich hochzurappeln. Auf beiden Seiten von den kleinen Engeln gestützt, stolperte er im fahlen Lichtschein des Mondes langsam vorwärts. Plötzlich war in der Ferne ein Ruf zu hören: „Toooommy!“
Der Junge blieb abrupt stehen, um zu antworten. „Paapaaa!“, schrie er mit einer Lautstärke, dass es den kleinen Willi vor Schreck auf den Hosenboden setzte. Der Junge torkelte und Florian hatte Mühe, ihn festzuhalten. Schnell rappelte sich der kleine Willi wieder auf und gestützt von den beiden Engeln lief Tommy auf die immer lauter werdenden Rufe zu. Bald waren Lichter durch die Bäume zu erkennen und nach zahllosen „Tommy“ und „Papa“ konnten die beiden kleinen Engel Tommy loslassen, der auf eine Gruppe von Leuten zustürzte und von einer schluchzenden Frau in die Arme genommen wurde.
„Mama!“
„Tommy, mein Junge“, antwortete die Frau, „Wo bist du denn gewesen?“
„Oh Gott“, stöhnte der kleine Willi und verdrehte die Augen gen Himmel. „Wo soll er denn gewesen sein? Hier im Wald natürlich!“ Florian grinste.
„Ich bin einem Eichhörnchen nachgelaufen und das lief immer weiter in den Wald hinein. Und dann ward ihr plötzlich alle weg und dann wurde es dunkel und es war kalt ...“, plapperte der Junge los.
Ein großer, schlanker Mann trat auf die beiden zu, wickelte den Jungen in eine Decke und gab ihm heißen Tee zu trinken. „Ich glaube, wir machen uns jetzt auf den Rückweg, das war wirklich viel Aufregung für einen Tag.“ Er nahm Tommy auf den Arm.
„Papa“, seufzte der Junge glücklich und sein Kopf sank auf die Schulter des Mannes. Der kleine Suchtrupp kehrte um. Erleichterung und Freude stand allen ins Gesicht geschrieben. Florian und Willi folgten ihnen in einigem Abstand bis zum Waldrand. Die Gruppe von Menschen setzte ihren Weg auf einer kleinen Straße in Richtung eines hell erleuchteten Ortes fort. In der Ferne begannen gerade die Kirchenglocken zu läuten.
Doch plötzlich fuhren Willi und Florian zusammen. Ein stahlharter Griff umschloss ihren Nacken und eine laute Stimme polterte: „Ho ho ho. Da haben wir ja die beiden Ausreißer!“ Die beiden kleinen Engel zogen unwillkürlich die Köpfe ein. So ein Mist! Auf dieses Donnerwetter hätten sie gerne noch verzichten können.
„Sich einfach auf meinem Schlitten zu verstecken!“, polterte Weihnachtsmann Berchtold weiter. Es blieb eine Weile still und plötzlich lockerte sich der schraubstockartige Griff an ihrem Hals. „Gott sei Dank habt ihr das Jungchen rechtzeitig gefunden! Nicht auszudenken“, fuhr die Stimme mit ganz normaler Lautstärke fort, „wenn er die ganze Nacht im Wald hätte zubringen müssen!“
Die beiden kleinen Engel warfen sich mit immer noch gesenkten Köpfen erstaunte Blicke zu. Florian wagte es sogar, noch halb zu schielen, und sah, dass Weihnachtsmann Berchtold der Gruppe vom Dorf versonnen nachblickte. Langsam entspannten sie sich. „Ho ho ho.“ Zwei große Hände klatschten ihnen so fest auf die Schultern, dass sie beide einen Satz nach vorne machen mussten, um nicht bäuchlings im Schnee zu landen.
Doch Weihnachtsmann Berchtolds Stimme klang richtig freundschaftlich: „Wir sollten uns auch langsam auf den Rückweg machen. Einen Besuch in einem Kinderheim habe ich noch zu machen. Da könnt ihr mir noch helfen. Kommt!“ Sie gingen ein Stück am Waldrand entlang und bald erreichten sie den Schlitten, der dort im Schatten der Bäume parkte. Für das Kinderheim waren viele große und kleine Päcken vorgesehen und die beiden kleinen Engel machten sich mit Feuereifer an das Verteilen unter dem Baum. Als sie sich umblickten, sahen sie, wie Weihnachtsmann Berchtold begeistert auf allen Vieren durchs Zimmer krabbelte und mit der Nase und mit seinen kurzsichtigen Augen fasziniert einer elektrischen Eisenbahn folgte, die er soeben aufgebaut hatte.
Florian und Willi hatten große Mühe, ihr Lachen zu unterdrücken. Bald darauf kehrten sie zum Schlitten zurück und Weihnachtsmann Berchtold hob sie auf den Kutschbock. Sie kuschelten sich in die Ecke und nach einem mäßig lauten „Ho ho ho! Jetzt geht es wieder nach Hause“, setzte sich der Schlitten in Bewegung und hob schließlich vom Boden ab. Willis Kopf sank immer wieder auf Florians Schulter, so müde war er, und sie waren beide froh, als der Schlitten endlich vor ihrem Schlafwohnheim „Himmelsruh“ hielt. „Also, gute Nacht ihr beiden“, wünschte Weihnachtsmann Berchtold flüsternd, „es war wirklich ein anstrengender Tag für euch. Schlaft euch morgen mal richtig aus. Ich werde euch bei eurem Kursleiter entschuldigen!“
„Oh, vielen Dank!“, stammelte Florian überrascht.
Die beiden Engel rutschten vom Kutschbock. „Gute Nacht!“, riefen sie und winkten kurz, als der Schlitten wieder anfuhr. Florian musste Willi stützen, als sie zu ihrer Schlafwolke schwebten, so müde war er. Er sank auch sofort auf sein Wolkenbett und begann zu schnarchen. Florian setzte sich neben ihn und betrachtete den Sternenhimmel. Was für ein Tag! Was für ein Abenteuer! Es war wirklich unglaublich. Er sah zu Willi hinüber und musste lächeln. Eines war ihm aber auch klar geworden: Er hatte heute einen Freund gefunden, auf den er sich verlassen konnte und der immer mit ihm durch dick und dünn gehen würde! Ja, ganz gewiss, und sie würden bestimmt noch viel Spaß zusammen haben!
Maria Wendlandt, Jahrgang 1966, verstarb im April 2008 kurz nach der Vollendung dieser Geschichte. Sie wohnte mit ihrem Mann und ihrer 15-jährigen Tochter seit August 2006 auf Teneriffa.
*
Angorina
Es war einmal am Tag vor dem ersten Advent. Draußen im Wald war alles still und ruhig. Es war schon kalt und geschneit hatte es gestern. Alle Tiere hatten sich geschützte Ecken gesucht.
Der Waldweg, auf dem sonst schwere Holzwagen rumpelten, lag einsam da. Doch plötzlich kam jemand den Waldweg entlang gestapft. Ein paar Hasen, die gerade aus ihrem Bau guckten, erkannten die Gestalt sofort und hatten keine Angst. Es war nämlich St. Niklas. Der ging in diesen Tagen vor Weihnachten in die Dörfer und Städte überall. Er holte sich die Wunschzettel ab, die die Kinder vor das Fenster in die Schuhe legten. Ganz braven Kindern legte er einen Apfel oder etwas Süßes wieder hinein, dann war die Freude groß. Doch heute bedrückte ihn etwas. Er suchte in seinen Taschen und sah traurig drein. Die Hasen merkten es gleich, liefen ihm entgegen und fragten nach seinem Kummer.
„Ja, denkt euch nur“, sagte er, „ich habe einen Wunschzettel verloren. Er ist von einem kleinen Mädchen aus dem Dorf dort hinter der Kreuzung. In dem letzten roten Häuschen an dem großen Garten wohnt es. Ich bin aber so müde heute und kann nicht mehr zurückgehen und suchen. Was mache ich nur?!“
Die Hasen dachten nach, wie ihm wohl zu helfen war. Einer hatte eine Idee und sagte: „Lieber St. Niklas, du weißt, für uns graue Hasen ist es jetzt gefährlich in die Nähe der Menschen zu gehen, man sieht uns doch gleich im Schnee. Aber in der Nähe wohnt eine Angora-Familie. Du kennst doch die Hasen mit dem schönen weißen Fell. Die älteste Hasentochter wollte schon immer etwas erleben, sie wird dort hinlaufen und den Wunschzettel finden. Ich hole sie gleich einmal her!“
Es dauerte nicht lange, da kamen sie gelaufen. Angorina, so hieß die weiße Häsin, war wirklich wunderschön, sie freute sich, dass sie St. Niklas helfen konnte, und sauste gleich ab. Sie fand das Häuschen mit dem Garten, suchte alles ab, aber vergeblich. Es wurde Abend, und hungrig wurde sie auch. Ihr Näschen entdeckte bald etwas Gutes, dass ihr wundervoll schmeckte. Angorina fraß sich dick und rund. Dann wurde sie sehr müde und dachte: Morgen früh, wenn es hell ist, finde ich den Wunschzettel bestimmt. Sie mummelte sich ein und schlief sofort.
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