Eine Nachfolgegesellschaft gestaltet für Opfer totalitärer Systeme kulturelle und politische Erinnerungsmomente, die vom Denk- bzw. Mahnmal über künstlerisch-kulturelle oder wissenschaftliche Veranstaltungen bzw. philosophisch-ethische Reflexionen bis hin zu politischen Mahnereignissen reichen. Alle Initiativen insgesamt können unter dem Begriff Erinnerungskultur bzw. -arbeit zusammengefasst werden.
Abb. 2: „Einsame Entscheidung“, Bild 5 aus dem Jägerstätter-Zyklus von Ernst Degasperi
Der in Meran/Südtirol geborene und in Wien beheimatete Künstler Ernst Degasperi charakterisierte die NS-Ideologie und Vernichtungsmaschinerie als die „Pervertierung der Gewalt zur Moral“. 17Demgegenüber hat Jägerstätter durch seine moralische Haltung deutlich gemacht, dass die menschen- und glaubensfeindliche Gewalt der Nazis nicht zu rechtfertigen ist, und hat sich der Pervertierung entgegengestellt. Degasperi verstand sein künstlerisches Schaffen als Friedensarbeit. Sein Jägerstätter-Zyklus bringt die Haltung Jägerstätters gegen den Strom seiner Zeit in bewegender Weise zum Ausdruck.
Abb. 3: „Gegen den Strom“, Bild 6 aus dem Jägerstätter-Zyklus von Ernst Degasperi
Der Papst, die höchste Autorität der Kirche, sprach Franz Jägerstätter 2007 selig, womit er einen bleibenden Platz im Martyrologium der katholischen Kirche hat. Seine Lebenshingabe wird mit einer neuen Wertigkeit versehen, die von Menschlichkeit und Gottesbezug geprägt ist. Die Kirche pflegt den Brauch, Märtyrer/innen unter einem Altar zu bestatten, so wie ursprünglich über den Gräbern von Märtyrer/innen Kirchen und Altäre erbaut wurden. Das ist eine besondere Form der Erinnerungskultur. Jägerstätters Bestattung unter dem Altar, die ihm als Märtyrer zukommt, stiftet ein bleibendes Gedenken und verbindet die Lebenshingabe Jesu und ihren Sinn mit der Lebenshingabe des Märtyrers in der Nachfolge Jesu, um der Liebe zu den Menschen den Vorrang zu geben. 18
Auch die offizielle Politik in Österreich rehabilitierte den, der sich geweigert hatte, mit der Waffe in der Hand für Hitler zu kämpfen. Anlässlich der Seligsprechung schrieb der österreichische Bundespräsident Dr. Heinz Fischer an Frau Franziska Jägerstätter und konstatierte im Namen der Republik Österreich:
Mit diesem besonderen Schritt wird das Wirken von Franz Jägerstätter weit über die Grenzen unseres Landes hinaus geehrt und dokumentiert. Auch für unser Land war es nach 1945 nicht leicht, die Opfer des Widerstandes anzuerkennen und zu akzeptieren. Die bewusste Gehorsamsverweigerung von Franz Jägerstätter, die aus einem langen Reifungsprozess entstanden ist, verdient unseren höchsten Respekt und Anerkennung. Die Nationalsozialisten konnten Franz Jägerstätter töten, aber genau dadurch haben sie seine moralische Größe sichtbar gemacht. Sie wollten seinen Namen auslöschen und haben ihn eben dadurch ins Buch der Geschichte eingetragen. 19
Durch die Selig- bzw. Heiligsprechung in der katholischen Kirche wird eine bleibend gültige Entscheidung gegen das Vergessen einer Persönlichkeit, gegen die Negation der Individualität der menschlichen Person und deren Würde gesetzt, das Erinnern zur Anregung, zur Aufgabe, ja Pflicht erhoben sowie unter den Kategorien der kirchlichen Riten und Feiermöglichkeiten und durch die darüber hinaus zu gestaltende Erinnerungskultur verwirklicht. Die Haltung einer Persönlichkeit gegen die Kräfte des Bösen wird anerkannt und in ihrer bleibenden Bedeutung (Heroizität) zur Verwirklichung des Evangeliums gewertet. 20
Nachdem Franz Jägerstätter als Märtyrer anerkannt worden war und dessen Seligsprechung im Jahr 2007 erfolgte, unternahm die Pfarrgemeinde von St. Radegund im Zuge einer Generalsanierung der Pfarrkirche auch die Neugestaltung des Altarraumes ihrer Pfarrkirche und übertrug die Reliquien des seligen Franz Jägerstätter (Brandleichenreste) nach Absprache mit der Diözesanleitung in den neuen Altar. Damit wird dem Ansinnen des totalitär denkenden Nationalsozialismus mit dessen verbrecherischer und menschenverachtender Tötungsmaschinerie und seinem Kriegsfanatismus, die Erinnerung all derer auszulöschen, die sich dagegen aussprechen und dagegen verhalten, eine bleibende Gedächtnisstätte entgegengesetzt. Die Seligsprechung von Franz Jägerstätter bestätigt, dass er mit seinem Gewissen ein klares Urteil gegen das religionsfeindliche und den Wert eines Menschen verachtende System für sich gefunden hatte und dafür in den Tod ging. Die Aufhebung seines Todesurteiles bestätigt, dass er nicht nur im religiösen Sinne richtig lag, sondern auch aus politischer Perspektive Recht bekommen sollte, ist doch der Nationalsozialismus derart zu verurteilen, dass bereits das Aufgreifen dieses Gedankengutes und dessen Verbreitung heute (in Deutschland und Österreich) verboten sind und geahndet werden. 21
Wie sehr Jägerstätter inzwischen auch in Kultur, Politik und Gesellschaft angekommen ist, mögen drei weitere Beispiele zeigen. Bundespräsident Alexander Van der Bellen verweigerte im September 2018 durch Androhung seines Veto-Rechtes dem freiheitlichen Politiker Hubert Keyl die von der Regierung beschlossene Ernennung zum Richter am Bundesverwaltungsgericht, weil er Franz Jägerstätter einen Verräter genannt und dessen Seligsprechung in Frage gestellt hatte. SPÖ-Kultursprecher Thomas Drozda meinte nach der Nominierung von Keyl, „dass das Ansehen eines Nationalhelden unserer Republik, eines Menschen, der zum Inbegriff des Anstands und der aufrechten Haltung unter Inkaufnahme der Vernichtung der eigenen Existenz wurde, zutiefst beleidigt wird“. 22
Zur Eröffnung des Internationalen Brucknerfestivals in Linz am 8. September 2019 brachte der Chor V. I. P. Voices in Progress den von Schriftsteller Franzobel (Franz Stefan Griebl) verfassten Text „Jägerstätter“ und das von Thomas Mandel komponierte Chorwerk zur Uraufführung. Dazu meinte Bürgermeister Klaus Luger in seiner Festansprache, dass der Aufbruch in neue Welten immer auch Erkenntnisse aus der alten Welt mitnehmen möge, und konkretisierte seine Aussage: „Wir können zum Beispiel mitnehmen – das hat die Inszenierung des Chors mit dem Lied über Franz Jägerstätter bewiesen –, dass wir Jahre wie 1933, 1934, 1938 und ganz besonders 1939 als gesellschaftlichen Auftrag sehen, dass solche Entwicklungen, und zwar von ihren Wurzeln an, nie wieder stattfinden dürfen. Das soll uns gerade in diesem September bewusst sein.“ 23Mit diesem Chorwerk und demselben Chor unter Leitung von Stefan Kaltenböck war Oberösterreich auch beim Festkonzert am 3. November 2019 im Großen Saal des Wiener Musikvereines vertreten. Gefeiert wurden 70 Jahre Chorverband Österreich. Jägerstätter wurde inzwischen zu einem Ausweis Oberösterreichs auch in der kulturellen Welt. 24
Das Weltkriegsdrama A Hidden Life von Starregisseur Terrence Malick wurde beim Filmfestival in Cannes am 19. Mai 2019 im Wettbewerb um die Goldene Palme uraufgeführt. Der Spiegel schrieb anlässlich der Premiere: „Der neue Titel A Hidden Life, einem Zitat von George Eliot entlehnt, setzt einen anderen, prägnanteren Akzent: Immer wieder machen Nazischergen Jägerstätter klar, dass von seinem Akt des Widerstands keine Wirkung ausgehen wird, dass niemand von seinen Taten hören wird. Dieser Film stellt sicher, dass von diesem Mann und diesem Leben nichts verborgen bleibt.“ 25Am 21. November 2019 feierte er als Eröffnungsfilm des Filmfestivals Around the World in 14 Films in Berlin seine Deutschlandpremiere, bevor er am 31. Januar 2020 in die deutschen Kinos kam. Seine weltweite Wirkung wird erst nach Jahren abschätzbar sein.
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