Hilde erschrak und rief: »Niemals möge mich dies elbische Ungeheuer erhalten!«[2]
Sie fragt, warum er nicht für sich selbst werbe, und da er seinen Auftrag erledigt hat, kann er es tun und tut es erfolgreich.
Das Bewegende an der Geschichte ist – und man muß aus dem ersten Lesealter heraus sein, um sich bewegen zu lassen –, daß Dietrich selbst durch die Werbung aus seiner Sphäre hinauswill und nur ein König sein will unter anderen. Am Ende sind alle um ihn herum, alle, die nicht unbedingt ihm gleich, aber doch aus seiner Sphäre waren, Hildebrand, Wittich, Heime, tot. Er sitzt allein im Schloßhof wie ein Rentner auf der Parkbank. Da wird er auf einem überirdischen Pferd entrückt, und seitdem führt er das »wilde Heer« an, einen fürchterlichen Gespensterzug, vor dem sich die Leute in ihre Häuser flüchten. Ja, ein Ende für den fürchterlichen Helden, der zuvor hatte ein Ehemann werden wollen, aber es hatte nicht sollen sein.
Was ist die Sphäre der Helden?
*
Als er den »Produktionsprozeß des Kapitals« beschrieben / analysiert hatte, stand Marx vor der Frage, wie es denn zum Kapital bzw. dem Kapitalismus gekommen sei. »Kapital« war in seiner Analyse immer das, was vorausgesetzt werden mußte, damit Kapital produziert werde, die Entwicklung des Kapitalismus setzt den Kapitalismus voraus: »Man hat gesehn, wie sich Geld in Kapital verwandelt, durch Kapital Mehrwert und aus Mehrwert mehr Kapital gemacht wird. Indes setzt die Akkumulation des Kapitals den Mehrwert, der Mehrwert die kapitalistische Produktion, dieser aber das Vorhandensein größerer Massen von Kapital und Arbeitskraft in den Händen von Warenproduzenten voraus. Diese ganze Bewegung scheint sich also in einem fehlerhaften Kreislauf herumzudrehn, aus dem wir nur hinauskommen, indem wir eine der kapitalistischen Akkumulation vorausgehende, ›ursprüngliche‹ Akkumulation (›previous accumulation‹ bei Adam Smith) unterstellen, eine Akkumulation, welche nicht das Resultat der kapitalistischen Produktionsweise ist, sondern ihr Ausgangspunkt.«[3]
Was war, bevor das war, was wir kennen und gewohnt sind? Das ist nicht nur eine historische Frage, sondern oft eine systematische, haben sich doch unseren Techniken des Verstehens an dem geschult, was wir um uns herum vorfinden. Über das, was »vorher« gewesen, erzählen wir farbige Geschichten. Marx erzählt eine Geschichte von Raub und Zwang, von Betrug und Trick, von Krieg und Hasard – nein, nicht eine Geschichte, viele Geschichten, die Szenarien entwerfen, wie es zum Aufhäufen riesiger Vermögen gekommen ist, die schließlich irgendwie nicht anders weiter gemehrt werden konnten als durch Ausbeutung von zuhandener Arbeitskraft, die ihrerseits eben einfach irgendwann »da« gewesen ist, nachdem die Subsistenzmittel ihrer Eigentümer ruiniert worden waren. Marx erzählt uns in diesem 24. Kapitel seines Kapital eine große Oper von Untergang und Aufstieg, von ubiquitärem Verbrechen, gesetzfreiem Rauben, von Herumgetriebensein und Sklaverei und Mord, bis alles zueinander findet und die Schätze zu Kapital, die Sklaven und Herumstreunenden zu Lohnarbeitern werden.
Es gibt andere Geschichten, die dieser an Farbigkeit nicht nachstehen, die aber näher an Märchen und Legende sind. Da sind die Teufelsbündler, die einen Beutel haben, der nie leer wird (harmloser der Goldesel), Hauffs »Das kalte Herz«, die Erfindung des Papiergelds durch Mephistopheles im Faust II oder das Treiben des Heathcliff in Emily Brontës Wuthering Heights oder, vielleicht, Alexandre Dumas’ Graf von Monte Christo, dessen Schätze allerdings nur einmal zu etwas Kapitalähnlichem werden, als er ein untergegangenes Schiff nachbauen läßt, um einer ruinierten Reederei wieder auf die Füße zu helfen. – Georg Simmel fragt, was denn Gesellschaft erst zur »Gesellschaft« und somit zum Objekt einer eigenen Wissenschaft gemacht habe, und antwortet: die »praktische Macht, die im neunzehnten Jahrhundert die Massen gegenüber den Interessen des Individuums erlangt« hätten, und die Distanz der Klassen zueinander, die es der höheren, beobachtenden nahegelegt habe, die untere als gesichtslos, eben »Masse« wahrzunehmen,[4] ein politisch-psychologischer Abscheu, der sich zur Methode modelt – ein Gestaltwandel sui generis.
Wie ist es zu unserer Gesellschaft der Institutionen, des Rechts, der monopolisierten Gewalt gekommen? Seit alters her sind es die Heldengeschichten, die hier die bunte Antwort geben. Einst war Bedrohung und Willkür, der Mensch von unserer Art war zu schwach, sich vor den Bedrohungen zu schützen, aber dafür gab es die Helden. Sie schafften die Bedrohungen aus der Welt, unsere Vorfahren bauten dann Athen oder Rom oder Dodge City.
Vor den Zeiten irgendwie gefügten Miteinanderlebens steht nicht etwas wie der »Naturzustand«, wie Thomas Hobbes ihn aus didaktischen Gründen imaginiert hat, gleichwohl eine gefährliche Zeit, in der Dörfliches, Familiales, in Ansätzen Urbanes stets von Regellosigkeit bedroht war oder phantasiert wurde, eine Zeit, die in der Literatur in der Heldensage ihre Phantasiegestalt erhält, in der Wirklichkeit … da kann man streiten, sagen wir so: Wenn man das Räuberunwesen nach den Napoleonischen Kriegen nicht mehr durch Vertrauen auf einen »guten« Schinderhannes abzuschaffen trachtet, sondern durch Polizei oder Militär, wenn man in Gotham City alles wieder ins Lot bringen kann, ohne auf Batman zurückzugreifen, dann sind wir dort sicher angekommen, was wir »Moderne« nennen.
Sprechen wir also von der phantastischen Zeit der Helden, die uns das schufen, was wir ohne sie in Gang halten müssen – Euripides blickt darauf in seinem »Wahnsinn des Herakles« zurück: Herakles, so meinen sein (irdischer) Vater Amphitryon, seine Frau Megara und seine drei kleinen Söhne, sei von seiner letzten Aufgabe, den Kerberos aus dem Hades zu holen, nicht wiedergekehrt. Der Chor blickt am bereiteten Grab darauf zurück, was einem Gemeinwesen ein Held bedeutet hat:
Zeus’ nemeischen Hain
Befreit er vom Löwen,
Legt sich das Fell um die Schultern,
Drückt sein jugendlich Haupt mit dem blutigen Rachen.
So sind die Herakles-Statuen, die wir kennen; Euripides ruft das allen geläufige Bild auf.
Wildem Kentaurenvolk,
Brut, die in Schluchten haust,
Brachte gefiederter Pfeil,
Mordender Bogen den Tod.
[…]
Nahe an Pelions Hang,
Nah seiner Zwingburg,
Tötet sein Pfeil den Kyknos,
Der die Wandrer erschlug am Flusse Anauros.
[…]
Er stieg in die Schlüfte des Meeresfürsten,
Brachte den Schiffern die Frieden der Fahrten.
[…]
Reiterhorden der Amazonen
Jagte er auf in den stromreichen Steppen.[5]
Wilde Tiere, Monstren, Wegelagerer, Raubritter und kriegerische Horden von irgendwoher – das muß besiegt, das muß ab- und aus der Welt geschafft werden, damit die Zivilisation der Dörfer und Städte herrsche, die dann, wenn möglich geregelt, Krieg gegeneinander führen können. Für den braucht’s keine Helden, vielleicht aber Heldengeschichten – wir kommen noch darauf. Die griechischen Sagen haben noch andere »Zivilisationshelden«, also solche, die das Feld bereiten für ein Zusammenleben, in dem man sie nicht mehr braucht: Theseus, der den Wegelagerer Prokrustes tötet, dann den Minotauros überlistet, Perseus, der die Medusa und den Meerdrachen schlägt. In der traditionellerweise »germanisch« genannten nordeuropäischen Heldensage ist es Thor, der besonders menschennahe Gott, der sich dem Kampf gegen die Riesen verschrieben hat, Siegfried tötet einen Drachen, Dietrich Riesen und Wegelagerer – es ist dasselbe Muster.
Interessant, daß Dietrich, unbestritten der größte der, wie man so sagt, »deutschen« Helden, als König eine ambivalente Gestalt ist; er ist unbeherrscht, seine »Gesellen« wechseln zuweilen den Herrn, politisch ist er nicht erfolgreich, lange Zeit muß er im Exil bei den Hunnen verbringen, am Ende mißlingt ihm die Gründung einer Dynastie (oder sagen wir bürgerlich: die Gründung einer Familie), und er ist allein. Vor dem Tod stöbert er noch einen ebenfalls überständigen Riesen auf, tötet ihn, aber die Zeiten der Helden sind vorbei. Und wenn ihre Zeiten vorbei sind, haben sie auch keinen Ort mehr.
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