Jan Philipp Reemtsma - Helden und andere Probleme

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Die Zivilisation steht auf dünnem Eis. Hier riskiert ein Intellektueller einen Blick in die abgründige Tiefe!
In seinen Essays diskutiert Jan Philipp Reemtsma das Unbehagen an einer Zivilisation, zu der die Gewalt als mögliche, vielleicht sogar als attraktive Lebensform gehört, eine Lebensform, die sich nicht aus niederen Instinkten, sondern aus praktizierter Bedenkenlosigkeit, aus der Gewährung von Macht oder aus dem Versprechen vermeintlicher Grandiosität erklären lässt. Er geht diesem Problem in seiner historischen, rechtlichen und anthropologischen Dimension nach, indem er Werke der literarischen Tradition seit der «Ilias» nach den in ihnen enthaltenen und künstlerisch gestalteten Gewaltkonstellationen befragt.
Reemtsmas Essays sind anregend, gedankenreich und voller Überraschungen, an denen er die Leserinnen und Leser wie im Gespräch teilnehmen lässt.

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Jan Philipp Reemtsma

Helden

und andere Probleme

Essays

für Fanny Esterházy Inhalt Mother dont go Der Held das Ich und das Wir - фото 1

für Fanny Esterházy

Inhalt

»Mother don’t go!« Der Held, das Ich und das Wir

Dietrichs mißlungene Brautwerbung. Über Heldengeschichten

Untergang. Eine Fußnote zu Felix Dahns Ein Kampf um Rom

»Alles bekommt man ja einmal satt«. Kämpfe, Gleichnisse und Friedensschlüsse in der Ilias

Gewalt – der blinde Fleck der Moderne

Gewalt als attraktive Lebensform betrachtet

Einige Fragezeichen bei Walter Kempowski

»Was hast du?« Sophokles über den Schmerz

»Dattelbäume« –? Stefan George läßt seine Aras träumen

»Gewalt gegen Tiere« – was sagt man, wenn man das sagt?

Das Scheinproblem »Willensfreiheit«. Ein Plädoyer für das Ende einer überflüssigen Debatte

Täterstrafrecht und der Anspruch des Opfers auf Beachtung

Herders Problem mit der Geschichte – und das unsere

Nachweise

Anmerkungen

»Mother don’t go!«

Der Held, das Ich und das Wir

Ein berühmtes Foto: John Lennon und Yoko Ono auf einer Demonstration. Lennon reckt den rechten Arm, ballt die Faust, auf dem Kopf hat er eine (modisch stilisierte) Ballonmütze, die Unterzeile könnte aus dem Refrain eines seiner Lieder stammen:

A working class hero is something to be

If you want to be a hero just follow me

So fängt das Lied an:

As soon as you’re born they make you feel small

Aber zu John Lennon kommen wir später. – Zunächst zum Klassiker, wenn man über Helden reden will:

Uns ist in alten maeren wunders viel geseit

Von helden lobebaeren von großer arebeit

Uns wird in alten Erzählungen viel Wunderbares berichtet:

Von berühmten Helden, großer Mühsal.

So weit der Beginn des Nibelungenliedes – auf Englisch geht das so:

In stories of our fathers high marvels we are told:

Of champions, well approvéd in perils manifold.

Arno Schmidt benutzte diese englische Übersetzung, um das Nibelungenlied in die Zeit nach dem Ende des Zweiten und vor dem Beginn eines Dritten Weltkrieges zu verlegen – erzählt von einem Dichter auf dem Mond, wohin sich die Restmenschheit nach diesem Dritten Weltkrieg von der verstrahlten Erde geflüchtet hat. Und in dieser Nachdichtung wird Siegfried zu »Alabama-Dillert« (einer Figur aus James Jones’ Some Came Running ):

Aber jetz kam er, unverkennbar ER, DER HELD: Alabama= Dillert![1]

– der natürlich irgendwann von einem düsteren »H. G. Trunnion« (man hört: HaGeTronje) hinterrücks erschossen wird. Die ganze Mannschaft wird anschließend anläßlich einer verräterischen Einladung in das russisch besetzte Berlin ebendort niedergemacht:

Und wurden Alle=Alle, ob Folker ob Tankwart, weck= geputzt, ›verheizt‹, Einer nach dem Andern; als Letzter H. G. Trunnion, der ihnen, nicht zu beugen, bis zuletzt sein »Fucking Bolshies!« entgegenschleuderte – : so wurde Dillert endlich gerächt![2]

Vorgetragen wird diese Version des Nibelungenliedes im Radio der amerikanischen Mondstation (es gibt noch eine russische – der Kalte Krieg geht auf dem Mond lustig weiter). – So wird das Ende von den Zuhörern kommentiert:

»Von hintn – : so’n Schwein!«; (Dschordsch; erschtickt): »Das kann kein echter Juh=Eß=Boy gewesen sein, dieser= dieser – – «. : »Well Dschordsch – fair war’s natürlich nich. Aber es gab schon bei uns solche Leute: ich hatte ma’n Onkel in Massachusetts …« (Aber er wollte im Augenblick von meiner Verwandtschaft nichts hören: »Und das Alles in Gedichtform, Du: das iss gar nich so einfach!«: »Aber in Börrlinn hat sich der Trunnion dann doch wieder gans vorbildlich benomm’, George – ich weiß nich: mir hat er gefalln! Er hat jene frühere ›Tat‹ doch schließlich auch seinem General zuliebe getan: dergleichen Angeschtellte sind nich häufig, Du: die für’n Scheff n glattn Mord begehn?« (Und das mußte auch George zugebm, daß er, in seinem=Kontor=damals, Keinen von der Sorte gehabt hätte … . .[3]

Zu den Heldenliedern hat vielleicht immer die Parodie gehört, sie steckt schon in den Nebenfiguren, den nicht ganz so geratenen Helden, Homer hat mit seinem Thersites wenigstens schon der protestierenden Stimme Raum gegeben. Nehmen wir aus der zitierten Parodie des Nibelungenliedes eine erste Definition dessen, was ein Held ist: Helden repräsentieren Tugenden, die Allgemeingültigkeit beanspruchen (»für den Chef einen glatten Mord begehen«), in extrem gesteigerter, also seltener Form (George hatte »in seinem Kontor keinen von der Sorte gehabt«). Das reicht natürlich nicht. In Zettel’s Traum finden wir den Seufzer, es sei doch schade, daß Helden nie in der Wiege erdrosselt würden. Sind ihre Tugenden ein öffentliches Unglück, sind sie mörderischer Art?

Susan Neiman bestreitet das in Moral Clarity .[4] Sie läßt obige vorläufige Definition für Achill gelten – er repräsentiere die kriegerischen Tugenden der archaisch-griechischen Aristokratie ins Extreme gesteigert (und durchs Extreme gefährdet). Es gebe aber bei Homer auch den Gegenentwurf, nämlich Odysseus. Der repräsentiere jene Tugenden ebenfalls in vorbildlicher Weise, darüber hinaus aber noch viel mehr: Er sei gewissermaßen ein Held des Humanum. In seinen Abenteuern durchlaufe er die Versuchungen und Rettungsmöglichkeiten des Menschen als Natur- wie Kulturwesen, oft problematisch, oft vorbildlich. Odysseus versteht zwar zu töten, ist aber nicht ein Held, weil er tötet. Die Frage, die sich anschließt, bezieht sich auf den literarischen Entwurf der Odyssee . Wenn Odysseus das Humanum repräsentiert, tut er das in einer durchaus post-archaischen, ja modernen Gestalt: als Individuum, nicht mehr als persona, durch die das Allgemeine in gewissermaßen gesteigerter Lautstärke spricht.

Allerdings bezieht sich das nicht auf den durch das Epos vor unsere Augen gerufenen Odysseus, sondern auf die von uns interpretierte literarische Figur . Wir verstehen ihn symbolisch und als unseren Repräsentanten in gesteigerter Form: Darum fängt uns die Odyssee ein. Das ist unsere moderne Lektüre. Als Held ist er aber nicht entworfen worden, und wo er, antik, vielleicht doch so empfunden worden ist, ist dies, ebenfalls antik, wütend dementiert worden, von Euripides etwa, in den Troerinnen , wo er ein bloßer Mörder ist. Eine Tradition, die sich bis zu Heiner Müllers großartigem Philoktet fortsetzt. Aber ich meine nicht so sehr die problematischen Seiten des homerischen Odysseus – die wären nichts Besonderes –, sondern vielmehr, daß die Repräsentanz des universellen Humanum keine Eigenschaft des Helden ist. Helden glänzen – wie und warum, wird zu untersuchen sein –, das Humanum ist nicht glänzend, wir bewundern Helden eben darum, weil sie das konventionelle Humanum nicht repräsentieren. Natürlich repräsentieren sie menschliche Potentiale – sie fallen ja nicht vom Himmel –, aber eben ungewöhnliche Steigerungen solcher Potentiale. Odysseus repräsentiert das Humanum in seiner Widersprüchlichkeit, seinem Geist, seiner Verführbarkeit, seiner Skrupellosigkeit wie seiner Umsicht, seiner Neugier und seinem Leichtsinn, seiner Fähigkeit auszuhalten. »Polytropos« eben – kein Wunder, daß es keine adäquate Übersetzung gibt. (Oder sollte man so übersetzen: »Erzähle mir, Muse, die Taten jenes changierenden Mannes, / welcher so weit herumkam, nachdem er Troja zerstörte«?)

In Mittelweg 36 , der Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, hat Christian Schneider einen anderen Helden des Humanum vorgestellt: Ödipus.[5] Man staunt. Man könnte meinen, so weit müßten Freudianer (der Verfasser ist Mitarbeiter im Frankfurter Sigmund-Freud-Institut) nicht gehen, daß sie Ödipus gleich zum Helden erklären, denn was hat er getan?: einen Fremden in einer Wegenge erschlagen, nicht wissend, daß es sein Vater war, die Sphinx in einem Rätselwettbewerb geschlagen, sich aus Dankbarkeit von der verwitweten Königin heiraten lassen, nicht wissend, daß es seine Mutter war, sich selbst des Vatermords und des Inzests überführt – am Ende schließlich die Selbstverstümmelung.

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