Ich versuchte, meinen Mann von seinem Vorhaben abzubringen. Wir waren doch voller Pläne, wollten ein Kind und eine Familie gründen. Aber vergeblich. Er könnte nicht anders, er hätte sich ja nun einmal für den Beruf des Soldaten entschieden. Er flog nach Afghanistan. Ich habe entsetzliche Angst um ihn gehabt. Und ich war so dankbar, als er nach sechs Monaten äußerlich unversehrt zurückkam .
Aber er hat sich verändert und ist mir fast fremd geworden. Er hat offensichtlich etwas erlebt, was das Maß des Erträglichen bei Weitem überstiegen hat. Er ist mir gegenüber abweisend. Einziger Außenkontakt ist sein Kamerad, der ebenfalls in Afghanistan war. Ich erreiche ihn nicht. Er spricht nicht darüber, was ihn bewegt. Nachts schreit er manchmal, wimmert, ruft den Namen eines Kameraden, der wohl Opfer eines Überfalls geworden war. Er wird immer wieder von den grausamen Erinnerungen an Afghanistan überflutet, sodass er sich wie betäubt, stumpf, ja gleichgültig fühlt. Daher vermeidet er auch alle ihm sonst vertrauten Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an die Traumatisierungen wachrufen könnten .
Er ist übererregt und schreckhaft und findet wenig Schlaf. Er versteht sich selbst nicht mehr, ist von sich selbst evakuiert. Und dass mit diesen Symptomen Angst, Depression und suizidale Gedanken verbunden sind, wird niemanden verwundern .
Für mich ist schwer zu ertragen, dass er einerseits seine seelischen Schmerzen zurückhält und andererseits sich offenbar danach sehnt, mit dem Leben wieder in Berührung zu kommen. Inzwischen wundere ich mich nicht mehr, dass er mit seinen Leidensgenossen zurzeit leichter sprechen kann als mit mir.«
Ist vieles im Leben nur Schicksal, Verhängnis, Tragik?
Wenn ich an die gerade angedeuteten Erfahrungen Einzelner sowie an die eben nur angedeuteten katastrophalen Verhaltensweisen vieler denke, wenn ich mir darüber hinaus die grauenvollen »modernen« Kriege vergegenwärtige, das Verhungern-Lassen von Millionen Kindern durch reiche Staaten, die Ignoranz oder grenzenlose Naivität verantwortungsloser narzisstischer Politiker, so frage ich mich: Ist das alles Schicksal, Verhängnis, Tragik? Warum geschieht so vieles im Leben, dem wir kopfschüttelnd, verzweifelt oder fassungslos gegenüberstehen, auch uns selbst? Müssen wir uns mit dem, was auf unserem schönen Planeten passiert, abfinden? Ist das nun mal so? Sollten wir uns lieber darauf verlassen, dass die Wissenschaften uns irgendwann Schlüssel zum Verständnis dieser Weltabläufe geben? Und wenn sie das könnten, vermögen sie uns auch zu zeigen, wie die Erkenntnisse in die Tat umzusetzen sind.
Die im letzten Abschnitt angedeuteten Beispiele sind Aussagen, die in ihrer Alltäglichkeit oder Weltläufigkeit über das zentrale Problem der Menschheit hinwegtäuschen. Ich sage es jetzt mit dem berühmten und doch so verkannten Paulus: »Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; das Böse aber, das ich nicht will, das tue ich.« Das bedeutet: Dass wir nicht so frei sind, nicht so verantwortlich, nicht so liebesfähig, nicht so glücksfähig, nicht so menschlich etc., wie wir sein könnten und möchten – jedenfalls den realen Möglichkeiten nach.
Muss Leben so sein – und bleiben? Was ist das für eine Kraft, die uns immer wieder daran hindert , dass wir unserer eigenen Einsicht und unserem eigenen Willen folgen? Oder gibt es doch eine Kraft, die stärker ist als die Hindernisse in uns?
Worum es dem Gegenspieler vor allem geht
Der Gegenspieler hat verschiedene Gesichter und Ausdrucksformen. Seine »Verwandten« heißen zum Beispiel der Wütende in mir, der Verantwortungslose, der Ankläger, der Arrogante, der Eitle, der Unwahrhaftige, der Heimatlose, der Angstmacher, der Lieblose, der Haltlose, der Maßlose, der Süchtige, der Ausweichler, der Wahrnehmungsstörer. Oder auch: Der (scheinbar) Vornehme, der Mitleidheischende, der Spötter, der Zyniker, der Brutale, der Schmeichler, der Stratege. Kurzum: Der Gegenspieler ist der oft verkannte und deshalb nicht erkannte, nicht wahrgenommene, nicht begriffene Lebensverneiner in uns, der das Gute im Menschen und im Leben überhaupt stört oder gar zerstören will, der das Gegenteil des Lebensbejahers ist, der das Leben will (!).
Das, worauf der Gegenspieler vor allem abzielt, ist das Entwerten des Menschen, das Infragestellen seiner Würde, die Missachtung seiner Selbstachtung, die Infragestellung seiner Kräfte. Und da aus Selbstsicht Weltsicht wird, fehlt vielen Menschen auch die Wertschätzung für die Welt, in der sie leben.
Was aber bedeutet das, wenn sich ein Mensch nicht wert genug fühlt, was bedeutet das konkret? Ein solcher Mensch hat nicht genug Freude an sich selbst und nicht genug Freude am Leben. Und wenn mich nicht alles täuscht, liegt hier das Kernproblem des Menschen überhaupt.
Die Folge : Er hat Mangel an Gefühl, im Leben sein zu dürfen.
Die Folge : Er ist zu viel mit den eigenen Mängeln beschäftigt.
Die Folge : Er ist zu abhängig vom Urteil anderer.
Die Folge : Er ist nicht frei genug, über seinen eigenen Horizont hinaus über das Leben nachzudenken, geschweige denn, sich auf unbekanntes, frisches Leben einzulassen.
Die Folge: Er fragt nicht genug danach, was ihm Grund und Halt geben könnte, und entwickelt deshalb keine Beziehung zum tragenden Grund des Lebens, zum Göttlichen, zu Gott.
Die Folge: Er fühlt nicht genügend Geborgenheit im Leben.
Die Folge : Er entwickelt mehr als zuträglich Angst und daher mehr als zuträglich Aggressivität (auch wenn sie ihm nicht bewusst ist).
Die Folge: Hat aber ein Mensch zu viel Angst und Aggressivität in sich, hat er zugleich zu viel Selbstablehnung in sich, weil diese Gefühlskräfte unteilbar sind, also sich sowohl nach innen als auch nach außen auswirken.
Die Folge : Weil niemand auf Dauer sich selbst ablehnend ertragen kann, richtet er (unbewusst) einen Teil seiner aggressiven Kraft gegen die eigene Seele und den eigenen Körper beziehungsweise gegen andere Menschen, gegen die Welt, gegen das Leben.
Die Folge : Wer die Gemeinschaft mit anderen und dem Leben überhaupt stört, verliert die Zuwendung durch anderes Leben, sodass sich das Gefühl, nicht wert zu sein, verstärkt.
Die Folge: Je stärker dieses Gefühl wird, desto weniger findet der Mensch Lösungen in sich selbst.
Die Folge: Er sucht Ersatz für seinen Mangel an gutem Selbstwertgefühl nicht mehr im Innern, sondern im Außen.
Die Folge: Je mehr er sich nach außen orientiert, desto mehr entfernt er sich von seiner inneren Welt.
Die Folge: Je geringer die Beziehung zur inneren Welt ist, desto geringer ist die Beziehung zu den spezifisch menschlichen Werten, die Sinn begründen.
Die Folge : Je mehr der Zugang zu diesen Werten verloren geht, desto weniger kann ein Mensch sein Leben sinnvoll gestalten.
Die Folge : Je weniger er sein Leben selbst gestalten kann, desto mehr verliert er Hoffnung, Zuversicht und den Mut zum Sein.
Die Folge: Je mehr er den Mut zum Sein verliert, desto mehr verliert er die Begeisterung fürs Leben.
Die Folge: Nimmt die Begeisterung fürs Leben ab, nimmt auch die Kraft des Geistes ab, in dem die spezifisch menschlichen Werte gründen.
Die Folge: Die Problemorientierung nimmt weiter zu, die Wertorientierung nimmt ab. Die Freude am Leben geht immer mehr verloren.
Der Gegenspieler und der Zweifel
Eine der besonderen »Methoden«, mit denen der Gegenspieler sein Entwertungsprogramm durchführt, ist der Zweifel. Er ist so alt wie der Gegenspieler selbst. Denken Sie nur an die berühmte Frage der Schlange im 1. Buch Mose: »Sollte Gott wirklich gesagt haben, dass Ihr nicht von dem ›Baum der Erkenntnis‹ essen dürft?« Diese und ähnliche Fragen lösen Unsicherheit aus, Zweifel an dem, was »an und für sich« klar ist. Wer zweifelt, denkt und fühlt nicht eindeutig.
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