Was Goethe mit dem berühmten Satz aus Faust meinte, war den Märchen , jenen Spiegelungen der Seele, schon immer bekannt. Ein Beispiel: Der Prinz ist voll Freude auf dem Weg zu einem fernen Schloss, um seine künftige Gemahlin in sein Reich zu holen. Unterwegs aber locken ihn sieben Raben in eine Schlucht und verschließen ihm, jedenfalls vorerst, den Ausweg. Bis eine alte, gebückte, gütige Frau erscheint und ihm zuflüstert, auf welchem Weg er in das nahe liegende Schloss gelangt.
Sigmund Freud schreibt in seinem aufregenden Traktat Das Unbehagen in der Kultur , das Unbehagen liege vordergründig in der Unruhe … in der Angststimmung ihrer (der Menschen) Zeit, denn: »Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten.«
Hintergründig jedoch liegt für ihn das Kernproblem in etwas Grundsätzlichem und Bleibendem: Zwei mächtige Prinzipien bestimmen, so Freud, den Gang der Welt, zwei mächtige Triebe, die miteinander im Kampf liegen. Gemeint sind die Destruktivität (er nannte sie in späteren Jahren den Todestrieb) und die Libido , die Liebe. Wie der Kampf dieser beiden »Giganten des Lebens« ausgehen werde, sei ungewiss, denn sie stellten nach Freuds Auffassung einen »wahrscheinlich unversöhnlichen Gegensatz« dar. Dieses Ungewissheitsgefühl war für Freud das grundlegende und bleibende Kernproblem des Menschen seiner Zeit. Deshalb beendete er sein Traktat mit dem (aus meiner Sicht) niederschmetternden Satz: »So sinkt mir der Mut, vor meinen Mitmenschen als Prophet aufzustehen, und ich beuge mich ihrem Vorwurf, daß ich keinen Trost zu bringen weiß, denn das verlangen sie im Grunde alle, die wildesten Revolutionäre nicht weniger leidenschaftlich als die bravsten Frommgläubigen.« 2
Und wenn Freud irrte? Wenn man gar kein Prophet sein müsste, um sagen zu können: Es gibt Trost für uns Menschen? Es gibt Grund zur Hoffnung, Hoffnung darauf, dass wir unser eigenes Leben und das Leben überhaupt mehr als bisher wohlwollend betrachten, vielleicht sogar lieben können? Allerdings unter zwei Bedingungen: Dass wir uns beide Seiten der Seele vergegenwärtigen, dass wir die dunkle Seite ansehen, studieren, so weit wie möglich begreifen und daraus existenzielle Schlüsse ziehen – und dass wir im Besonderen die helle Seite der Seele ansehen, studieren, begreifen und daraus existenzielle Schlüsse ziehen. Denn wir leben primär nicht von unserem Problembewusstsein, sondern von unserer Wertorientierung .
Um uns dem »Wesen« des Gegenspielers anzunähern, möchte ich Ihnen zunächst eine Reihe individueller, aber verdeckter Alltagsbeispiele vorstellen, darüber hinaus solche, die weit über den Alltag hinausgehen.
Verdeckte Beispiele des Gegenspielers
Die folgenden einfachen Beispiele aus dem täglichen Leben sind keine Erfindung. Nicht wenige dieser Sätze sind oder könnten in meiner Ordination gesagt worden sein. Ob Ihnen das eine oder andere Beispiel bekannt vorkommt?
•Eine Frau sagt: »Ich habe doch alles, wonach sich so viele Frauen sehnen: einen lieben Mann, nette Kinder, Gesundheit, genügend Geld. Aber ich bin trotzdem nicht glücklich. Immer wieder mache ich mir klar, was ich alles habe. Aber dann werde ich von dunklen Gedanken überschwemmt, gegen die ich machtlos bin – oder zu sein scheine.«
•Ein Mann sagt: »Ich gebe es ungern zu: Ich habe Angst. Ich weiß nicht wovor. Das war schon immer so. Dabei kenne ich gar keinen Grund, weswegen ich Angst haben sollte. Doch dann schleichen sie heran, die Gedanken, die ich nicht mehr einfangen kann. Nur mühsam gelingt es mir – viel zu selten –, anders, ›positiv‹ zu denken.«
•Jemand sagt: »Auf meinem Nachttisch liegt ein Buch, das ich mir vor zwei Jahren bewusst gekauft habe. Aber ich greife an jedem Abend immer nach einer Boulevard-Zeitung, die ich hasse.«
•Ein anderer berichtet: »Ich stehe vor meinem Chef und möchte mich über etwas beschweren, was mich schon lange bedrückt. Aber dann nicke ich nur zu einer belanglosen Geschichte, die er mir anvertraut.«
•Ein Mann ahnt, dass ihm sein Stress bald einen Herzinfarkt bescheren könnte. Er hat Angst vor dieser Möglichkeit. Aber: Weder ändert er die Struktur seiner Tage noch seine Einstellung zur Arbeit. »In einer Nacht«, erzählt er leicht beschämt, »hatte ich einen wunderschönen Traum. Ich stand an einem Bach. Die Morgensonne spielte mit den winzigen Strudeln des fließenden Wassers. Die Luft war klar, die Stille wohltuend. Ich tat nichts. Ich war nur da. Ich nahm nur auf: die wohltuende Stille, die klare Luft, die Morgensonne, die Schönheit der Bilder. Tiefes Glück zog durch alle meine Poren. Mit einem Lächeln wachte ich auf. Nur eine Stunde später bediente ich zwei Telefone zugleich, griff nach meinem Medikament und murmelte, als sich mir der Traum noch einmal zeigen wollte: ›So eine Albernheit.‹«
•Eine Frau weiß, dass sie mit dem Rauchen aufhören müsste. Sie sagt sogar: »Ich ekle mich inzwischen vor dem Rauch.« Aber dann steckt sie sich die nächste Zigarette an …
•Ein 40-Jähriger: »Ich wusste, dass der Satz, den ich auf der Zunge hatte, die endgültige Trennung von meiner Partnerin zur Folge haben würde (was ich überhaupt nicht wollte). Aber dann sagte ich ihn doch.«
•Eine Frau und ein Mann ahnen, dass ihre Ehe gefährdet ist. Beide wissen sogar, dass sie sich noch immer lieben. Aber: Statt zu klären, was sie in diese Situation gebracht hat, machen sie sich weitere Vorwürfe.
•Er sagt zu ihr: »Ich liebe dich.« Doch sie blickt verschämt zur Seite und hängt nur dem Gedanken nach: »Wie oft hat er diesen Satz wohl schon anderen Frauen gesagt?«
•Eine Frau ahnt, wie wichtig es wäre, die jahrelange Feindschaft gegen ihre Familie aufzugeben und versöhnliche Zeichen zu setzen. Aber: Wieder greift sie zum Hörer und entlädt ihre Aggressionen.
•Die kleine Tochter sagt zu ihrem Papa: »Komm doch bitte mit auf die Demo für die Umwelt.« Er schaut sie liebevoll an und sagt: »Weißt du, mein Schatz: Frag die Mami. Die hat wirklich mehr Zeit als ich.«
Nur drei Beispiele von vielen möglichen, die weit über das Alltägliche hinausgehen. Sie ließen sich beliebig erweitern:
•Während ich diese Sätze schreibe, lese ich, dass vor zwei Tagen ein 27-jähriger Mann in Südtirol mit seinem Sportwagen in eine Gruppe junger Skiläufer gerast ist. Er war betrunken. Sieben junge Menschen zwischen 22 und 25 Jahren starben. Andere schweben derzeit noch in Lebensgefahr. Was gäbe dieser Mann darum, wenn er nicht der inneren Stimme seines Gegenspielers gefolgt wäre, die ihn dazu verführte, sich betrunken ans Steuer zu setzen?
•Akte des Gegenspielers sind meines Erachtens auch die laschen Bemühungen von Politikern, dem immer deutlicher werdenden Klimawandel konstruktiv zu begegnen. Es musste erst ein Kind kommen, um die »Großen« auf ihre Pflichten aufmerksam zu machen. Was hat das mit dem Gegenspieler zu tun? Er »sorgt« dafür, dass die Vernunft das innere Brennen für unseren wunderbaren Planeten niederhält.
•Nicht verdeckt, sondern brutal offen zeigt sich der Gegenspieler in Kriegen, so zum Beispiel in Traumatisierungen von Soldaten, die aus Afghanistan zurückkehren und an »posttraumatischen Belastungsstörungen« leiden. Einen erschütternden Brief leitete eine Zeitung an mich weiter mit der Bitte, der 30-jährigen Frau S. behilflich zu sein. Der Brief spiegelt in einem Einzelfall wider, was Kriege im Allgemeinen und immer wieder im Besonderen anrichten. Frau S. schrieb:
»Unser Leben hat sich verändert, und ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Vor drei Jahren haben wir geheiratet. Mein Mann ist 29 Jahre alt und Soldat bei der (deutschen) Bundeswehr. Ich weiß, dass sein Beruf sehr gefährlich sein kann. Vor einem Jahr kam er nach Hause und sagte, er wolle nach Afghanistan, um dort seine Pflicht zu tun und den Menschen zu helfen. Und er zitierte den früheren Verteidigungsminister, der gesagt hatte, dass unsere Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt werde .
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