Das war schon immer so, unabhängig von der Zeit und ihrem Geist, unabhängig von den jeweiligen Umständen. Mir scheint jedoch, dass eine Generation nach der anderen sich daran gewöhnt hat, dass das Leben nun mal so ist: unvollkommen, doppeldeutig, zwiespältig, so und nicht anders. Dass die Ambivalenz des Lebens unser Schicksal ist.
Ich schreibe dieses Buch zur Zeit des Coronavirus. Wir erfahren aus den Medien, dass es Zeitgenossen gibt, die sich verantwortlich fühlen und sich an die vorgegebenen Hinweise zur Vermeidung der Ausweitung der Pandemie halten. Und dass es andere gibt – und diese stehen meiner Überzeugung nach unter dem Diktat des »Gegenspielers« –, die nur an sich und ihre Wünsche denken und sich nicht vergegenwärtigen, dass sie mitverantwortlich sind für die Ausweitung der Epidemie – und damit für weitere Todesfälle.
In diesem Buch möchte ich zeigen, dass wir Menschen keineswegs dem Diktat innerer Zerrissenheit ausgeliefert sind, dass wir vielmehr die Möglichkeit haben, unser Dasein in weiten Bereichen selbst mitverantworten und mitgestalten zu können und viel mehr Freude am Leben haben könnten als bisher .
Noch etwas: Alle Namen in den Fallgeschichten aus meiner Berufspraxis im Buch sind frei erfunden. Und: Auf vielen Seiten ist von »er« und »ihm« die Rede. Selbstverständlich meine ich damit den Menschen, die Frau und den Mann.
EINLEITUNG
Der Anstoß zu diesem Buch: Wertimaginationen – die destruktive Macht des Gegenspielers und die konstruktive Kraft des Verbündeten
Zugegeben, alles Leben ist vom Wechselspiel polarer Strukturen bestimmt. Wir begegnen ihm überall. Es gibt den Tag und die Nacht, die Geburt und den Tod, die Natur und den Geist, den Himmel und die Erde, den Mann und die Frau, die Liebe und den Hass, die Freiheit und den Zwang, die Verzweiflung und die Hoffnung, die Lebensverneinung und die Lebensbejahung, die Konstruktivität und die Destruktivität, die Sinnfindung und die Sinnverweigerung. Wie aber können wir im Spannungsfeld dieser Polaritäten leben – wirklich leben ?
Vielleicht, wahrscheinlich sogar, werden Sie sich fragen, was mich dazu bewegt, mich auf ein solches Thema einzulassen, haben sich doch viele große Geister aus Philosophie, Psychologie, überhaupt Geistes- und Naturwissenschaftler seit Jahrhunderten an dieser Frage wundgerieben. Nein, ich bin nicht übermäßig eitel oder geltungssüchtig. Ich möchte nur gegen Ende meines Lebens Ihnen nicht vorenthalten, was ich im Lauf der Jahre in meiner Arbeit von der Möglichkeit erfahren habe: dass wir weit weniger in diesem Spannungsfeld unserer Seele leiden müssten, dass wir häufiger zum Frieden mit uns selbst und der Welt gelangen könnten, wenn wir mehr von dem wüssten, was in unserer inneren Welt, also im Unbewussten, vorgeht – an Bedrohungen einerseits und realen Möglichkeiten andererseits. Und was sollten wir wissen, vor allem erfahren ?
Vor gut 30 Jahren habe ich Wertimaginationen zu entwickeln begonnen. Inzwischen ist diese Form der Imagination den forschenden Kinderschuhen entwachsen.
Die Wertimagination ist ein empirisches Konzept, beruht also auf Erfahrungen – auf Erfahrungen mit Menschen unterschiedlichster Art, typologisch, lebensgeschichtlich, persönlich. Und diese Erfahrungen haben mir etwas gezeigt, worauf mein Denken niemals gekommen wäre: dass sich die polaren Strukturen des Lebens im Unbewussten in zwei großen symbolischen Gestalten widerspiegeln – in der des Lebensbejahers , ich nenne ihn den Verbündeten , und der des Lebensverneiners , den ich als den Gegenspieler bezeichne. Darüber hinaus haben mir diese Erfahrungen gezeigt, dass es einen Unterschied macht, ob wir ein allgemeines Symbol betrachten, wie zum Beispiel die Freiheitsstatue in New York, oder die Freien als Wertgestalt.
Lebensbejahung ist wohlwollende Haltung sich selbst und allem Leben gegenüber und daher die wichtigste Voraussetzung für ein gelingendes Leben. Lebensverneinung dagegen ist aggressive Haltung sich selbst und dem Leben gegenüber und daher die Grundlage für ein misslingendes Leben. Wer diese Tatsache verkennt und sich nicht bewusst mit ihr auseinandersetzt, läuft Gefahr, unglücklich zu werden.
Die Auseinandersetzung mit dem inneren Gegenspieler einerseits und das Sich-Ausrichten und Sich-Einlassen auf den inneren Verbündeten andererseits sind ein wesentlicher Grund dafür, dass wir mehr als bisher in Freiheit sein und tun könnten, was wir wollen. Um Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, einen kleinen Einblick in die innere Welt zu geben, von der ich spreche, möchte ich Ihnen kurz die von mir entwickelte »Methode« der Wertimagination vorstellen. Anschaulicher würde sie jedoch, wenn wir sie miteinander praktizierten.
Wertimaginationen (lat. imago = Bild) sind einem Traum vergleichbar. Sie sind »Wanderungen« ins Unbewusste, präziser: in den Bereich des Unbewussten, in dem die spezifisch menschlichen Werte ihre Wurzeln, ihren Grund haben, zum Beispiel die Freiheit, die Verantwortlichkeit, die Liebe, der Mut, die Hoffnung, die Spiritualität, die Kreativität etc.
Anders als im Traum jedoch wird das Bewusstsein nicht ausgeblendet. Der Imaginand erlebt die inneren Bilder nicht nur, er kann auch selbst auf sie Einfluss nehmen , auf die »positiven« ebenso wie auf die »negativen« Gefühlskräfte, die ihn in der Entfaltung seiner Persönlichkeit fördern beziehungsweise behindern.
Zentrum der Wertimaginationen sind die inneren »Wertgestalten«, die die spezifisch menschlichen Werte als Personen zum Ausdruck bringen. Sie sind es, die die Selbst- und Sinnverwirklichung fördern. Sie symbolisieren Potenziale, reale Möglichkeiten, die weit über die Fähigkeiten des Bewusstseins hinausgehen. Sie »wissen« besser als der Verstand, womit sich die Imaginandin/der Imaginand auseinandersetzen sollte und womit nicht. Und sie vermitteln Kräfte, die Erkenntnisse auch umsetzen zu können. Sie schaffen eine erstaunliche kognitive, emotionale und energetische Annäherung an den jeweiligen Wert, den sie symbolisieren. Wichtig ist, dass sie nicht vorgestellt, sondern erwartet werden. Und das geschieht so, dass wir uns auf sie ausrichten .
Die Wertgestalten können sich in jedem M enschen zeigen. Sie mögen verdrängt oder verkapselt sein, präsent bleiben sie immer, denn sie sind konstitutiv für jeden.
Wer sind diese Gestalten? Keine Einbildungen, keine Projektionen unbewusster Wünsche, keine Fantasiefiguren, keine Phantome, sondern vom unbewussten Geist (Viktor Frankl) geschaffene, wirkungsmächtige Personifizierungen. Sie sind Gefühlskräfte, die darauf warten, endlich wirken zu können. Sie haben die Tendenz, sich mit unserem Bewusstsein zu verbinden.
Die Wertimaginationen haben mir deutlich die destruktive Macht des Gegenspielers veranschaulicht, mehr aber noch die konstruktive Kraft des Verbündeten. Beide Großmächte sind im Grunde die Autoren der Geschichte unseres Lebens, je nachdem, wem unsere Zuwendung gilt. Gewiss, im Alltag erfahren wir wenig von dem, was sich in unserer Tiefe abspielt. Das aber bedeutet keineswegs, dass dieses Spiel in der Tiefe uns nichts anginge, im Gegenteil: Je »realistischer« wir über dieses Spiel hinweg leben, desto leichteres Spiel hat der Gegenspieler. 1
1Eine ausführliche Darstellung der Wertimagination finden Sie in meinem Buch: Unsere Tiefe ist hell. Wertimagination – ein Schlüssel zur inneren Welt, München 72014.
DER INNERE GEGENSPIELER: WAS ER IST, WAS ER TUT, WOHER ER KOMMT
»Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust«
Dieser leidvolle Ausruf von Goethes Faust könnte insbesondere als Motto unserer abendländischen Kulturgeschichte gelten, dessen Vorläufer sich bereits bei den griechisch-antiken Philosophen Xenophon und Platon findet. Zwei Seelen? Es gibt ein Gespräch, das niemand hört und kaum jemand als Gespräch erkennt. Es findet an einem Ort statt, den jeder kennt und doch nicht jedem vertraut ist. Wenn Sie sich jedoch in sich selbst zurückziehen und so weit wie möglich nichts denken, tun oder wollen, dann erfahren Sie das Zwiegespräch in Ihrer eigenen Seele: das Für und Wider der Gedanken und Gefühle, das Hin und Her zwischen Zögern und Entscheiden, das Gespräch zwischen dem Lebensbejaher in Ihnen, der Leben will und Leben sucht, und dem Lebensverneiner in Ihnen, der sich weigert, zu hoffen und zu glauben, dass Leben geht und gut sein kann, so oder so.
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