»Es tut mir leid, aber wir wurden eingeschaltet, weil Herr Stein wahrscheinlich einem Tötungsdelikt zum Opfer gefallen ist. Alle Hinweise sind von größter Bedeutung.«
»Patrick?«, fragte Kati schrill. »Tötungsdelikt? Sie sprechen von Mord?«
»Wir ermitteln in alle Richtungen. Ich kann mir vorstellen, dass das für Sie ein großer Schock ist. Vielleicht setzen Sie sich einen Moment«, murmelte Nachtigall und schob die junge Frau vorsichtig in Richtung Besucherecke, platzierte sie auf einer giftgrünen Couch.
»Tötungsdelikt. Mord?«, wiederholte die junge Frau leise. »Ausgerechnet Patrick? Das kann ich nicht glauben.«
»Wir wissen noch nicht, wie er gestorben ist, können zum jetzigen Zeitpunkt nichts ausschließen. Er ist gestern Nachmittag zum Laufen aufgebrochen. Wussten Sie, dass er das geplant hatte?« Der sanfte Ton schien Kati etwas zu beruhigen.
»Ja. Alle wussten das. Er legte die Termine fest – und jeder wusste, dass er die Sache mit dem sportlichen Engagement sehr ernst nahm. Noch.«
»Er hielt nicht lange durch? Das kenne ich aus eigener Erfahrung.«
»Die Ziele waren zu hochgesteckt. Sie wissen schon: nicht operationalisiert. Man kann niemals aus dem Nichts heraus ein toller Läufer werden. Das muss sich entwickeln. Es war der sechste Anlauf, seit ich ihn kenne. Und das sind nun immerhin schon vier Jahre.«
»Lief er immer zur selben Zeit, eine gewohnte Strecke?«
»Nein. Das funktioniert in dieser Kombination aus seinem Job und politischem Engagement nicht. Aber was hat das mit seiner Ermordung zu tun?«
»Nun, er brach zum Laufen auf, kehrte aber nicht zurück. Ist es denkbar, dass er nach dem Training noch ein Treffen hatte?«
Kati schwankte ein wenig beim Aufstehen, hielt sich tapfer aufrecht und ging langsam auf den Schreibtisch zu. »Es gibt einen Kalender. Moment … Nein, hier ist kein Eintrag für gestern. Ich checke den Computer.«
»Nein, bitte starten sie ihn nicht! Die Kollegen nehmen ihn später mit. Ich brauche nur das Kennwort, damit die Kollegen barrierefreien Zugang haben. Ein Team des Erkennungsdienstes ist auf dem Weg. Wir werden ebenfalls einige der Akten mitnehmen müssen.«
»Gut. Ich hoffe, Patrick hat alle wichtigen Dinge in der Cloud abgelegt. Sonst wird die Arbeit für uns schwierig.«
Kati setzte sich wieder. Weinte leise. Nestelte ein Taschentuch aus einer Packung, knisterte diese zurück in die Gesäßtasche der Jeans.
»Hatte Patrick eine besondere Beziehung zum Tagebau? Also abgesehen von der Diskussion über die Schließungen.«
»Patrick? Ich glaube nicht. Er hat mal eine Führung mitgemacht, wusste über alle Belange der Arbeit dort bestens Bescheid, kannte die aktuellen Diskussionen, die Ängste und Besorgnisse der Menschen, die dort arbeiten. Aber an der Frage der Abschaltung gibt es nichts zu rütteln. Die kommt. Wichtig war ihm das soziale Abfedern.« Sie schnäuzte kräftig in ihr Papiertuch, wischte ein paar Tränen von den Wangen.
»Die Drohmails bezogen sich auf dieses Thema, nicht wahr?«
»Ja. Manche. Es wird dauern, bis alle begreifen, dass gehandelt werden muss, wir keine Minute mehr zu verschenken haben. Selbst Frau Merkel hat den Klimaschutz als Aufgabe zur Lebensrettung der Menschen beschrieben.«
»War er wütend, wenn er solche Mails bekam? Manche enthielten nach Aussagen seiner Frau Morddrohungen.«
»Patrick hat das schon ernst genommen, glaube ich. Wütend oder etwa besorgt war er nicht, aber oft enttäuscht. Warum begreifen die Leute nicht, dass es Einschnitte geben muss? Es ist doch inzwischen gut zu erkennen, dass das Klima sich dramatisch ändert. Gerade in der Lausitz! Seit Jahren leiden wir unter anhaltender Dürre. Daraus resultieren Ernteausfälle und Waldsterben. Wie kann man da Schadstoffausstoß auf die Formel Freie Fahrt für freie Bürger reduzieren?«
»Was für ein Mensch war Patrick Stein?«
»Ordentlich, zielstrebig, aber auch hartnäckig und in manchen Fragen unbeugsam.«
»Hm.«
»Das wissen Sie schon?« Kati schniefte, putzte wieder die Nase. »Er war ein liebevoller Vater. Wenn eines der Mädchen anrief, ließ er alles andere los, widmete sich voll dem Problem des Kindes. Sei es ein verloren gegangenes Spielzeug, ein aufgeschlagenes Knie, ein kaputtes Fahrrad. Seine Frau ist ziemlich streng mit den beiden, aber er war freundlich, zugewandt. Ich denke, sie konnten mit ihm wirklich über alles reden.« Kati schluchzte leise auf. Setzte hinzu: »Natürlich war das Training nicht nur aus gesundheitlichen Gründen für ihn wichtig, er versuchte, seine verblassende Jugend zu erhalten. Sein Gewicht sollte reduziert werden, der Körper gestrafft. Die nahende Midlife-Crisis. Er war durchaus ein echter Kumpel, eine gewisse Arroganz musste man allerdings abkönnen.«
»Er war ein sympathischer Typ?«
»Ja. Einer, auf den hundertprozentig Verlass war. Kein dummer Draufgänger, kein Angeber. Und für #metoo wäre er überhaupt nicht in Betracht gekommen. Er liebte seine Familie. Eigentlich fehlte bloß der Bobtail zum perfekten Bild.« Es entstand eine kurze Pause, dann setzte Kati patzig hinzu: »Aber Doreen steht eher auf Katzen.«
Nachtigall spürte, wie sich eine gewisse Erleichterung in seinem Denken Platz machte. Stein war also doch nicht nur ein funktionierendes Rad gewesen, sondern ein netter Vater mit dezidierten politischen Ansichten und einem fixierten Lebensentwurf.
»Haben Sie bei seinem Arbeitgeber nachgefragt? Wissen die überhaupt schon Bescheid? Ich weiß, dass er sich gestern noch auf ein wichtiges Kundengespräch vorbereiten wollte.«
Das Türsignal bezeugte die Ankunft einer weiteren Person.
»Das ist sicher Fritz.« Nach kräftigem Schnäuzen rief sie laut: »Wir sind hier in Patricks Büro!«
Wenig später wand sich ein Kopf um den Türrahmen.
Kahl geschoren, die Nase gepierct, der Hals offensichtlich bis weit unter das T-Shirt-Bündchen tätowiert.
»Hey! Wer ist denn der Besucher?«
»Kriminalpolizei.«
»Oha.«
»Darf ich vorstellen: Friederike Schultheiß, genannt Fritz, neben Patrick unser zweites bekanntes Gesicht. – Herr Nachtigall, Kriminalpolizei Cottbus.« Kati sprang aus dem Polster auf. »Patrick ist tot!«
»Ach – hat sich nun doch einer getraut? Glückwunsch!«
Silke Dreier erwartete die Kollegen im Büro.
Doch offenbar hatten die beiden ihre Ermittlungen im Umfeld des Opfers ausgeweitet, vergessen, sich bei ihr zu melden, damit sie Dr. März davon in Kenntnis setzen konnte.
Der stand nämlich ungeduldig seit einer gefühlten Ewigkeit in Silkes Büro.
»Was hatten Sie gesagt, machen die Kollegen gerade?«
»Wahrscheinlich befragen sie Zeugen. Frau Klapproth hat obendrein einen Termin bei den Kollegen wegen dieses Doppelmordes am Gräbendorfer See. Wenn sich die beiden problemlos melden könnten, hätten sie das ganz gewiss getan. Also sprechen sie gerade mit jemandem.«
»Frau Dreier, ich stelle mir eine funktionierende Kommunikation zwischen meinen Ermittlern anders vor.«
»Es ist nicht immer planbar.« Silke blieb diplomatisch.
Endlich hörte sie Schritte auf dem Gang.
»Da kommt Frau Klapproth. Herr Nachtigall wird sicher auch sofort hier sein.«
Als Maja eintrat, wurde sekundenschnell klar, dass sie mehr als zornig war.
»Dieser Jannik! Was stellt der sich vor, wer er ist! Ich kann doch nicht seiner Ermittlung wegen unsere eigene zum Stocken bringen. Arroganter Pinsel!«, schimpfte sie und hätte sicher einen derben, bildhaften Fluch angehängt, wäre nicht gerade in diesem Moment Dr. März in ihr Blickfeld geraten. »Oh, Dr. März. Kontrollbesuch bei der Kripo?«, entfuhr ihr unbedacht.
»Wenn Sie es so sehen wollen!«
»Na, wir sind alle am Fall dran. Peter ist zum Parteibüro gefahren. Ich musste eine Zeugenaussage beim Kollegen Peters machen. Silke hat in der Zwischenzeit die Hintergrundinformationen zu Patrick Stein zusammengetragen. Alles läuft«, formulierte Maja kurz, aber unmissverständlich giftig im Vortrag.
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