»Und bei mir häufen sich Anrufe zu diesem Fall. Bis heute Nachmittag brauchen wir Ergebnisse, die sich auf einer Pressekonferenz präsentieren lassen. Nach dem Mord an Walter Lübke sind die Leute sensibilisiert.«
»Das ist uns sehr bewusst. Und wir wissen inzwischen von Drohbriefen und entsprechenden Mails an das Opfer. Peter hat sicher Material und Computer bei der Partei zur Untersuchung mitnehmen lassen. Die Technik wird sich darum kümmern.«
Die Tür schwang auf und Nachtigall drängte in den nun überfüllten Raum.
»Oh, Dr. März. Warten Sie schon lange?«
»Lange genug! Wie also ist der Stand der Dinge?«
»Natürlich war man bei der Partei entsetzt. Aber alle wussten von den Drohungen, die das Opfer bekommen hat. Die Festplatte wird ausgewertet, die Briefe waren ursprünglich in Ordnern abgeheftet und gesammelt worden, wurden aber von ihm selbst vor einigen Monaten im Aktenvernichter geschreddert. Einige wurden an seine private Adresse geschickt, die hat er in der Regel sofort nach Erhalt vernichtet – nach Angaben der Ehefrau war er nicht wirklich beunruhigt«, fasste Nachtigall zusammen. »Sein Bruder hatte auch diesen Eindruck, die Mutter konnten wir noch nicht befragen. Eine Streife hat ihr die Todesnachricht überbracht. Die Kollegen meinen, sie sei sehr gefasst gewesen. Beinahe so, als habe sie damit gerechnet, dass ihm so was zustoßen könne.«
»Gut. Lassen Sie sich von Frau Dreier zum Hintergrund des Opfers briefen. Um 16 Uhr ist Pressekonferenz, und ich will Sie beide mit am Tisch haben. Dieser Todesfall beschäftigt die Menschen.«
»Wir wissen noch gar nicht, wie er zu Tode gekommen ist. Bisher fehlen uns Informationen zum Tatgeschehen – und wir können nicht ausschließen, dass er einen Unfall … Dr. Pankratz ist mit ihm beschäftigt?«, fragte Nachtigall nach. »Wir können ja nicht überall von Mord reden – und uns später korrigieren müssen. Oder umgekehrt.«
»Kümmern Sie sich um all diese Fragen – ab 16 Uhr wird man uns löchern.« Damit verließ der Staatsanwalt das Team, zog die Tür betont geräuschlos ins Schloss.
»So, nun wissen wir Bescheid.« Nachtigall grinste schief, zwinkerte den beiden anderen zu. »Was haben wir?«
»Ich habe die Konten überprüft. Das Haus in Branitz ist solide finanziert. Man hatte eigenes Kapital, der ergänzende Kredit von der Bank wird regelmäßig bedient, die Tilgung ist variabel, und so wird das geliehene Kapital schneller als erwartet zurückgezahlt, das Konto bleibt dennoch gut gefüllt. Patrick Stein hat eine größere Erbschaft gemacht, nachdem sein Vater verstorben und die Mutter zum Verkauf des Hauses bereit war. Die Brüder und die Mutter teilten den Erlös untereinander auf. Jeder ein Drittel, alles ruhig, alles fair. Das Opfer legte das Geld bei der Hausbank an, kaufte Gold, wählte risikoarme Anlagen für das Kapital. Er ist immer auf Nummer sicher gegangen. Es gab nie eine Anzeige gegen ihn. Das ist schon überraschend, wo man bei Politikern gern auf Verdacht von Steuerhinterziehung fantasiert, illegalen Nebeneinkünften, zu hohen Honoraren bei Vorträgen et cetera. Er war kein notorischer Raser, kein ewiger Falschparker. Unauffällig.«
»Passt zu dem, was man uns bisher über den Mann erzählt hat.« Klapproth kramte ihr Notizbuch aus der Jackentasche. »Zuverlässig, ordentlich, gut organisiert.«
»Da kann ich etwas ergänzen«, meinte Nachtigall. »Nach Aussage der Mitarbeiterin im Parteibüro war er ein sympathischer Mann, etwas arrogant, um seine jugendliche Ausstrahlung und die Gesundheit bemüht, ein liebender Vater und Ehemann. Einer, zu dem man immer vollstes Vertrauen haben konnte.«
»Oh weh, du hast eine junge Dame befragt? Deren Blick auf die Realität in Männerkörpern ist oft emotional vernebelt.«
»Maja! Nicht alle werden beim Anblick von Männern kritiklos«, beschwerte sich Silke. »Mein Denken bleibt klar.«
»Genau«, beendete Nachtigall entschlossen die Diskussion. »Wir sollten eine Friederike Schultheiß zu einem Gespräch herbitten. Ihr Kommentar zum Tode des Kollegen war überraschend. Endlich habe sich jemand getraut … Es interessiert mich sehr, wie sie das konkret gemeint hat.« Er nickte Silke zu, die eifrig mitschrieb.
»Klar. Ich bestelle sie ein. Soll sie heute noch …?«
Nachtigalls Handy störte.
Er warf einen Blick aufs Display. »Rechtsmedizin«, informierte er das Team knapp.
Dr. Pankratz schüttelte den Kopf.
So heftig, dass die OP-Haube verrutschte und sich das Licht der Lampe in seiner makellosen Glatze spiegelte.
Der zweite Obduzent unterdrückte hastig ein Lachen.
Seiner Meinung nach war die Haube auf der Glatze ohnehin sinnlos. Aber er wusste, es gab Dinge, die man besser nicht ansprach.
»Ungewöhnlich ist dieser Angriff durchaus … Psychisch kranke Menschen in den meisten Fällen. Sie haben krude Vorstellungen, hängen irrealen Theorien an, fühlen sich vom Opfer verfolgt, übergangen, ausgebootet. Sie sehen sich zum Beispiel als Rächer oder Befreier der gesamten Gesellschaft, suchen das Licht der Öffentlichkeit, möchten im Blitzlichtgewitter stehen, ihren Namen in der Zeitung auf der Titelseite lesen. Manche lassen sich direkt am Tatort überwältigen und verhaften. Aber hier? Patrick Stein. Der Täter lauerte ihm beim Joggen auf – also keine öffentliche, pressewirksame Aktion mit Täterfotos oder unscharfen Handyvideos und verstörten, weinenden Zeugen, keine große Bühne. Täter und Opfer waren unter sich. Die nun einsetzende Aufmerksamkeit wird der Tat gelten, nicht dem Täter.« Er sah auf, deutete auf eine Serie von Aufnahmen, die die Stichkanäle abbildeten. »Hier die sichtbaren Zeichen des Überfalls. Das war wohl der erste Stich. Als der gesetzt wurde, stand das Opfer noch.« Er trat an den Edelstahltisch zurück. »Die Wunde ist deutlich doppelt und doppelschwänzig. Der Täter hat zweimal diese Stelle angegriffen. Ich schätze, weil das Opfer nicht sofort zu Boden ging. Die weiteren Verletzungen wurden Stein beigebracht, als er bereits lag. Dabei sind mehrere Details bemerkenswert. Nachdem er vornübergefallen war, lag der Körper bei den weiteren Angriffen auf dem Rücken. Entweder schaffte das Opfer es selbst, sich umzudrehen oder der Täter hat das übernommen. Stein sollte unbedingt erkennen, wer ihn tötete? Keiner der Stiche war sofort tödlich. Möglicherweise war dem Täter die Anordnung der lebenswichtigen Organe nicht geläufig, er konnte die verletzbaren Bereiche nicht genau lokalisieren, entweder das Opfer bewegte sich heftig oder er verfehlte sie mit Absicht. Todesursache ist wahrscheinlich inneres und äußeres Verbluten. Hypovolämischer Schock.«
Nachtigall nickte fast unsichtbar.
Klapproth wirkte überrascht. »Könnte es sein, dass dem Angreifer gar nicht auffiel, dass sein Opfer nach dem Überfall nicht tot war? Er sich vom Tatort entfernte im festen Glauben, den Mann getötet zu haben?«
»Eher nicht«, überlegte Nachtigall laut. »Wir haben ihn schließlich nicht an dem Ort gefunden, an dem er angegriffen wurde, sondern in der Schaufel eines Kohlebaggers. Jemand hat ihn dorthin transportiert. Und er hat einen ziemlichen Aufwand betrieben, um uns den Toten so finden zu lassen, wie er geplant hat. Sehr unwahrscheinlich, dass zwei Personen unabhängig voneinander agiert haben sollen. Das würde ja bedeuten: Ein Spaziergänger, der zufällig einen Groll auf Patrick Stein hatte, stieß zufällig auf den Leichnam des Ermordeten und beschloss, ihn an einen anderen Ort zu transportieren und dort zu präsentieren. Der Gedanke daran, die Polizei zu verständigen, kam ihm zu keiner Zeit.«
»Okay. Klingt nicht sehr wahrscheinlich«, räumte Klapproth ein. »Zumal er dann auch noch zufällig einen Freund haben musste, der ihm beim Transport behilflich ist.«
»Na, dann wollen wir mal«, entschied der Rechtsmediziner und setzte das Skalpell unter dem Kinn an, zog einen tiefen Schnitt bis zum Schambein. »So!«
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