Der geografische Kontext spielt dabei eine große Rolle. Der für Wallace überlieferte Geburtsort Elderslie, heute ganz in der Nähe der südlichen Startbahn des Flughafens Glasgow, liegt buchstäblich in Sichtweite von Dumbarton Rock und lag vor der Ankunft der fitzAlans in den 1130er-Jahren mitten im früheren britischen Kernland. Zudem befinden sich alle Stätten, die mit den frühen Jahren des Helden verbunden sind, sei es Elderslie, Riccarton oder Lanark (wo er 1297 den englischen Sheriff tötete), in derselben einst brythonischen Gegend. Da das Gälische dort das Cumbrische weitgehend ersetzt hatte, verleiht diese Verortung dem Bericht Glaubwürdigkeit, demzufolge Wallace unter seinen gälisch sprechenden Gefährten als Uilleam Breatnach oder »William der Brite« bekannt war. Das beweist noch nicht, dass Wallace selbst Kumbrisch sprach. Aber es verweist auf die vage Möglichkeit, dass »Braveheart« eine ähnliche Verbindung zum Schottentum gehabt haben könnte wie der hl. Patrick zum Irentum.80
Ähnliche Fragen umgeben auch die Ursprünge des mächtigsten Highland-Clans überhaupt, der Campbells. Ihre ältesten bekannten Besitzungen konzentrierten sich im Distrikt Cowal, direkt gegenüber der Insel Bute; und ihr späteres Kernland rund um Loch Awe und den oberen Loch Fyne liegt in fußläufiger Entfernung zum Loch Lomond. Ihr gälischer Name MacCailinmor leitet sich von einem berühmten Krieger des 13. Jahrhunderts ab, von »Colin Campbell dem Großen«, doch der Clan MacArthur Campbell von Strachur kann eine parallele Abstammung vorweisen, und dessen Beiname Campbell kommt vom gälischen caim beil oder »verzerrter Mund« und wird gewöhnlich übersetzt mit »eine Person, deren Rede nicht zu verstehen ist«. Sie waren mit anderen Worten keine gälisch sprechenden Schotten. »Der Clan Campbell«, so liest man in einer neueren historischen Arbeit über die Clans, »stammte wahrscheinlich von den altwalisischen Verwandten im alten Königreich Strathclyde ab.« 81
Man könnte also annehmen, dass irgendwo im Schatten von Dumbarton Rock die alten Sitten und Gebräuche fortbestanden. Vielleicht plauderten die alten Leute in ein paar bescheidenen Tavernen und Fischerhütten noch in der alten cumbrisch-brythonischen Sprache, sangen die alten Lieder und erzählten die alten Geschichten über Ceredig und Patrick, über Mungo und den Lachs, über die großen Schlachten bei Catraeth, Nechtansmere und am Siebenschläfertag.
Sie fragten sich sicher, was aus ihren Verwandten geworden war, die ins Exil gesegelt und nie zurückgekommen waren. Und sie brachten ihren Kindern bei, an den Fingern abzuzählen: yinty, tinty, tetheri, metheri, bamf …
Die Geschichte Schottlands hat wie die Geschichte Englands mehrere Phasen mit ebenso weitreichenden kulturellen und sprachlichen wie politischen Veränderungen durchlaufen. Man muss sich von der gängigen Vorstellung verabschieden, dass Sprache und Kultur endlos von einer Generation an die nächste weitergegeben werden, als seien »Schottentum« oder »Britentum« wesentliche Bestandteile eines bestimmten nationalen genetischen Codes. Wenn dies der Fall wäre, könnten aus verschiedenen ethnischen Elementen keine neuen Nationen – wie die Vereinigten Staaten von Amerika oder Australien – entstehen. Die Fähigkeit menschlicher Gesellschaften, Kulturen zu integrieren wie auch verschwinden zu lassen, wird stark unterschätzt. So wie Einzelne im Ausland in einer fremden Gemeinschaft aufgehen, so kann auch eine ortsansässige Bevölkerung, wenn sich die sprachliche und kulturelle Umgebung ändert, leicht dazu gebracht werden, sich anzupassen. Dominante Kulturen sind eng mit dominanten Gruppen verbunden. Wenn sich das Machtgleichgewicht ändert, verschiebt sich auch das Gleichgewicht der Kulturen.
Während der Existenz von Alt Clud war die britische Bevölkerung des »Alten Nordens« wiederholt äußeren kulturellen Einflüssen unterworfen. In der römischen Zeit war Latein die Herausforderung, zusammen mit der klassischen und später der christlichen Kultur, die sich mit der lateinischen Sprache eröffnete. In den »Dunklen Jahrhunderten« kam es zu einem doppelten Ansturm des Gälischen, das sich von Norden und Westen her verbreitete, und der verschiedenen Formen des Englischen aus dem Süden. Die heidnische nordische Kultur übte während der Wikingerzeit einen gewissen Einfluss aus, genau wie das normannische Französisch in der Zeit nach der Eroberung. Letztendlich versank die brythonisch-cumbrische Sprache nach einem langen Überlebenskampf in den Fluten, und die »Strathclyders« wurden zu einer besonderen Unterart der Schotten.
Im mittelalterlichen Schottland standen die gälischen Skoten, die das Vereinigte Königreich im 9. Jahrhundert gegründet und ihm ihren Namen gegeben hatten, immer stärker unter einem solchen Anpassungsdruck. Ihre Vorherrschaft dauerte nur etwa 200 Jahre,82 dann wurden sie durch neue nichtgälische Eliten aus den südlichen Lowlands ersetzt. Sie selbst wurden immer weiter in ihre Rückzugsräume in den Highlands und auf den Inseln zurückgedrängt. Nachdem sie die Pikten und Briten aufgesogen und ihre Stunde des Ruhms genossen hatten, sahen sie sich jetzt mit demselben Schicksal einer langsamen Auflösung konfrontiert wie einst ihre Rivalen in Piktland und im Alten Norden. Eine Zeit lang, nachdem Schottland seine Unabhängigkeit gegenüber England im 14. Jahrhundert bekräftigt hatte, bestand noch ein gewisses inneres Gleichgewicht, doch im Nachhinein betrachtet hatte der lange Rückzug schon begonnen.
In der Frühen Neuzeit allerdings kam die Gaeltacht wieder in Bewegung. Große Teile von Nordostschottland wurden anglisiert. Die Lowlanders wurden Protestanten, während viele Highlanders, deren Clans noch immer wie in uralten Zeiten von alljährlichen Plünderzügen und Viehdiebstahl lebten, Katholiken blieben. Vor allem aber bestieg im Jahr 1603 ein Stuart den Thron von England. Das gab den schottischen Lowlanders und Protestanten eine Machtverbindung nach außen, mit der die Gälen nie konkurrieren konnten. Kurz darauf wurde eine Kolonie militanter schottischer Protestanten in Ulster angesiedelt und die Gälen so von ihren irischen Verwandten abgeschnitten. Später im selben Jahrhundert zeigte Oliver Cromwell mit Feuer und Schwert, dass die drei Königreiche auf den Britischen Inseln nicht mehr als gleichberechtigt gelten konnten. Im Jahr 1707 kam es zur Union, und kurz darauf wurde das protestantische Königshaus Hannover eingesetzt, das einem fernen Parlament in Westminster verpflichtet war. Seitdem war es aus gälischer Perspektive nur noch eine Frage der Zeit, wann es zu einem letzten Aufbäumen kommen würde.83 Das tief verwurzelte Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein, und eine wachsende Schwermut befielen die Gälen, wenn sie das Scheitern ihrer Aufstände 1715 und 1745 und die Unterdrückung ihrer Lebensweise betrachteten. Ähnlich müssen sich die Briten des Alten Nordens fast tausend Jahre zuvor gefühlt haben. Ihre Krieger waren nicht weniger tapfer, ihre Sprache nicht weniger poetisch, ihre Geschichte nicht weniger alt. Und doch mussten sie sich den stärkeren Bataillonen und der politischen Notwendigkeit beugen. Im Vorfeld der entscheidenden Schlacht von Culloden im Jahr 1746 rezitierten die gälischen Clansmen ihre Genealogien unter Kanonenbeschuss, um darin eine Motivation für den Kampf im regendurchnässten Moor zu finden. Die Briten bei Catraeth oder Nechtansmere könnten durchaus das Gleiche getan haben. Denn die dem Untergang geweihten Kelten waren von einem entsprechenden Fatalismus erfüllt. Die Dinge geschahen, weil sie geschehen mussten. Die Natur war grausam. Tiere töteten Tiere. Männer kämpften gegen Männer. Arten starben aus, aber das Leben ging weiter. Der Tod gehörte zum Leben dazu.
Der Unterschied zwischen dem Schicksal der schottischen Gaeltacht und des Alten Nordens liegt darin, dass die Gälen ein paarmal von einer Gnadenfrist profitieren konnten.
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