Nichtsdestotrotz wird in der Tourismuswerbung dieses »Paradies für die Seele« gepriesen, wo man allen Arten von Aktivitäten im Freien nachgehen kann. In den Werbebroschüren ist die Rede von der Østersøens Perle (»Perle der Ostsee«), von Solopgangens Land (»Land des Sonnenaufgangs«), von maleriske fiskelejer (»stillen Fischerdörfchen«), von Pelle Eroberen (»Pelle der Eroberer« – Titel eines populären Romans6) und natürlich von Velkommen til Bornholm. Radfahren, Golfspielen, Angeln, Strandspaziergänge unternehmen, Windsurfen und ein Besuch in einem der Naturparks werden wärmstens empfohlen. Es gibt eine Greifvogel-Show und einen Schmetterlingspark und an den langen Juni-Tagen Veranstaltungen für Kletterer sowie für die Anhänger der neuen Sportart Ultramarathon.7 Jedes Jahr findet in der Hafenstadt Tejn das Trolling Masters Bornholm statt, ein Schleppangel-Wettbewerb mit Schnellbooten.8 Da Nacktbaden überall in Dänemark erlaubt ist, bietet Bornholm auch FKK-Anhängern eine Fülle von Angeboten.9 Das Gebiet westlich des Leuchtturms am Dueodde-Strand ist seit Langem ein beliebtes Touristenziel. Bornholm preist sich auch als »Grüne Insel« an. Rund 30 Prozent des Strombedarfs der Insel werden bereits durch Windkraftanlagen erzeugt, und bis 2011 sollten alle benzinbetriebenen Autos durch Elektrofahrzeuge ersetzt werden.10
Urlauber werden ermuntert, sich mit Bornholms Geschichte zu beschäftigen oder zumindest mit Teilen davon. Zu den Themen, über die nicht viel gesprochen wird, gehören die Weigerung der sowjetischen Roten Armee, die Insel nach der Befreiung 1945 wieder zu verlassen, sowie die Abhörstationen, die im Kalten Krieg von der NATO auf Bornholm eingerichtet wurden. Die größte Aufmerksamkeit richtet sich heutzutage auf die rätselhaften »Rundkirchen«, die die Tempelritter Ende des Mittelalters hier errichteten,11 und auf die Patrioten, die Mitte des 17. Jahrhunderts die Freiheit der Insel gegen die Schweden zu behaupten versuchten. Viele Besucher besichtigen die eindrucksvollen, auf den Klippen gelegenen Ruinen der Burg Hammershus, der größten Festung in Nordeuropa, die der dänische König Waldemar der Siegreiche Anfang des 13. Jahrhunderts erbauen ließ und von der aus man einen atemberaubenden Blick über das Meer nach Schweden hat. Hier wird alljährlich ein Ritterturnier abgehalten, doch schon allein der Ausblick ist Grund genug, den Ort zu besuchen. An klaren Sommermorgen erzeugt das schimmernde Licht, das auf den Wellen unter den Mauern liegt, magische Momente. Zeit und Raum verschwimmen, die Fantasie bekommt Flügel. Von oben herab, vom »Heute« der Klippenspitze aus betrachtet, wird der Fuß der Klippe zum »Gestern«, die anlandenden Wellen des Meeres verkörpern die Jahrhunderte der Geschichte, und das gegenüberliegende Ufer, das kaum zu sehen ist, wird zur Zeit der Völkerwanderung.
Dennoch ist es lohnend, sich mit der frühesten Geschichte Bornholms zu befassen. Einheimische Archäologen haben herausgefunden, dass die Abfolge der prähistorischen Gräber irgendwann plötzlich ihr Ende fand, was die Vermutung nahe legt, dass die Bewohner entweder durch eine Naturkatastrophe oder eine Seuche ausgelöscht wurden oder massenhaft ausgewandert sind. In diesem Zusammenhang ist die alte nordische Form des Namens der Insel von Bedeutung: Burgundarholm. Der Westsachsenkönig Alfred der Große nannte sie in seiner Übersetzung der Werke des Historikers Orosius Burgenda-Land.
Bei der Suche nach den Ursprüngen eines Volkes muss diesem nicht notwendigerweise ein bestimmtes Herkunftsland zugewiesen werden. Primitive Stämme waren mobil; sie waren alle in gewissem Maße Wanderer oder Nomaden. Selbst jene, die Landwirtschaft betrieben, hielten sich oft nur eine Saison an einem Ort auf, dann zogen sie weiter. Diese Saison konnte ein paar Sommer dauern, ein paar Generationen oder auch ein paar Jahrhunderte. Sie fand ihr Ende, wenn das bebaubare Land erschöpft war, wenn sich das Klima änderte oder wenn ein anderer, kriegerischer Stamm auftauchte und sie vertrieb. Dass Bornholm mit den prähistorischen Wanderungen der Burgunder in Zusammenhang gebracht wird, ist daher durchaus glaubhaft; es ist nicht bewiesen, aber mehr als eine bloße Möglichkeit. Es bedeutet aber auch nicht, dass Bornholm der einzige bedeutende Aufenthaltsort der Burgunder gewesen wäre oder dass nicht auch andere Völker auf dieser Insel Station gemacht hätten. Doch die Burgunder müssen lange und in großer Zahl hier gelebt haben, so dass die frühen Geografen diese Verbindung herstellen konnten.12
Es wäre jedoch müßig anzunehmen, dass sich durchschnittliche Besucher der Insel über dieses Thema Gedanken machen. Nur historisch Interessierte verfolgen die geschichtliche Entwicklung einer Insel, die zwischen den verschiedenen Mächten im Ostseeraum umkämpft war. Die Dänen haben im Hinblick auf die Vergangenheit eigene Prioritäten: Sie träumen von den Eroberungen der Wikinger und erinnern sich an die noch nicht allzu lange zurückliegende Zeit, als die Küste jenseits von Bornholm, die heute schwedisch ist, noch zu Dänemark gehörte. Einige der Ereignisse in der viel gerühmten nordischen Jomsvikingesaga , in der die Kriege zwischen den Wikingern und den Slawen geschildert werden, fanden auf der Insel statt. Die überlieferte Geschichte Bornholms, so heißt es in den Lehrbüchern, begann zu der Zeit, als die Insel zu den Besitztümern der mittelalterlichen Bischöfe von Lund gehörte. Im Jahr 1523 wurde die Insel von Dänemark erobert, später an die Stadt Lübeck verpfändet und von den Dänen wieder ausgelöst. Bis 1648 stand sie unter schwedischer Besatzung, 1716 stattete ihr der russische Zar Peter der Große einen Besuch ab, von 1940 bis 1945 war sie von deutschen Truppen besetzt und am Ende des Krieges wurde sie von der Roten Armee befreit.13 Die unbeschwerten Touristen hingegen, die bestenfalls einige Bruchstücke dieser Geschichte kennen, paddeln auf dem Meer oder entledigen sich ihrer Kleider, unternehmen Fahrradtouren auf der Insel, lassen Drachen steigen und kreuzen mit ihren Segelbooten vor der Küste.
Im Dezember 2010 brach ein besonders heftiger Schneesturm über die Insel herein, der große Teile Nordeuropas heimsuchte. Bornholm wurde zum Katastrophengebiet erklärt. Das Dänische Meteorologische Institut maß auf der gesamten Insel im Minimum Schneemengen von 146 Zentimetern, in einigen Teilen türmten sich sogar bis zu sechs Meter hohe Schneewehen. Nachdem die Bewohner eine Woche lang vergeblich der Schneemassen Herr zu werden versucht hatten, riefen sie um Hilfe. Es mussten Militärfahrzeuge eingesetzt werden, um die Versorgung sicherzustellen und die Berge von Schnee ins Meer zu kippen.14 Doch abgesehen von der Nachricht, dass dies der kälteste Winter seit Beginn der Wetteraufzeichnungen im Jahr 1874 war, hatten die Bewohner keine Zeit, sich Gedanken über die Geschichte ihrer Insel zu machen.
Kaum ein Thema hat in der europäischen Geschichte für mehr Verwirrung gesorgt als die Frage, wie viele »burgundische Reiche« es gegeben hat. Nahezu alle historischen Untersuchungen oder Nachschlagewerke, die man dazu heranzieht, liefern widersprüchliche Informationen. Bereits 1862 fühlte sich James Bryce, Professor für Zivilrecht in Oxford, veranlasst, in seine wegweisende Studie über das Heilige Römische Reich eine spezielle Anmerkung »Über die burgundischen Reiche« aufzunehmen. »Es ist kaum möglich, eine geografische Bezeichnung zu nennen«, schrieb er, »die in der Vergangenheit mehr Verwirrung gestiftet hat und es heute noch tut …«15
Bryce war ein Mann von unermüdlicher Ausdauer und Gewissenhaftigkeit. Er stammte aus Glasgow, war Bergsteiger, ein Liberaler und Anhänger von Gladstone, Botschafter in den Vereinigten Staaten von Amerika und ein gewissenhafter Faktenprüfer. (Er bestieg einmal den Berg Ararat, um nachzuprüfen, wo Noahs Arche geblieben war.) In seiner berühmten »Anmerkung A« führt er jene zehn staatlichen Gebilde auf, die seinen Untersuchungen zufolge »zu bestimmten Zeiten und in unterschiedlichen Gebieten« den Namen »Burgund« trugen:
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