Ich wurde 1980 in Basel geboren und meine Mutter musste bald wieder in die Uni, wenn auch nur ab und zu, um ihr Studium abzuschließen. Bei meiner Geburt war sie 21 Jahre alt. Im Gegensatz zu unserer Betreuungssituation lebten meine beiden Großmütter vor Ort. Vor allem meine Großeltern mütterlicherseits leisteten damals einen gewaltigen Anteil an meiner Betreuung. Oft verbrachte ich das ganze Wochenende bei ihnen, und auch in der Woche passte meine Mima, wie ich sie taufte, zuhause auf mich auf. Krippen gab es so gut wie nicht.
Meine Großmütter waren sehr unterschiedlich. Sie gaben mir aber beide ein wohliges Gefühl von Geborgenheit und ein unerschütterliches Vertrauen in das Gute mit auf den Weg. Bis heute schöpfe ich Energie aus diesem Kraftquell. Hélène, die Mutter meines Vaters, hatte ein offenes, lebendiges Haus, in dem junge Musiker ein- und ausgingen. Hausmusik gehörte zum Alltag. Sie spielte hervorragend Klavier, obwohl sie nie Musik studiert hatte, sondern ausgebildete Krankenschwester war. Von ihr habe ich die Liebe zur Musik und zu Fremdsprachen, denn mit ihrer italienischen Putzfrau unterhielt sie sich auf Italienisch, mit ihren Kindern abwechselnd auf Schweizerdeutsch und Französisch. Bei ihr herrschte immer ein herrliches Sprachengewirr.
Ich erinnere mich daran, wie ich durch das sonnendurchflutete Wohnzimmer in ihrem Haus schlendere und eine junge Basler Musikerin mir antwortet, sie spiele schon seit zwanzig Jahren Geige – für mich damals ein unfassbar langer Zeitraum. Der erste Satz von Beethovens Frühlingssonate erklingt, zwischendurch wird immer wieder kurz für Fragen zur Phrasierung unterbrochen. Wir Kinder laufen drum herum oder setzen uns unter das Klavier, drücken die Pedale und kitzeln die Musiker an den Beinen, bis es uns oder ihnen reicht und wir uns ein anderes gemütlicheres Versteck suchen, zum Beispiel unter dem ovalen Esstisch. Nach dem Zusammenspiel trinken wir gemeinsam Schwarztee mit Milch oder Zitrone, und die Erwachsenen debattieren über alles mögliche. Bis heute spielt die Offenheit für andere Kulturen und damit einhergehend das fortwährende Lernen von Fremdsprachen in unserem Alltag eine wichtige Rolle. Es bereichert unser Leben.
Linda, meine Mima, meine Großmutter mütterlicherseits, ist eine resolute, starke, sehr warmherzige und vor Energie nur so sprühende Frau. Jahrelang führte sie erfolgreich einen Irish-Shop mit Kleidung und vielem mehr von der Grünen Insel. Nichtsdestotrotz vermittelte sie mir, dass Kindererziehung und Haushaltsführung ein wichtiger Beruf sei, welcher ebenso gewissenhaft verfolgt werden könne, wie jeder andere Beruf auch. Als Jugendliche tippte ich mir an den Kopf, denn ich konnte mir wirklich nicht vorstellen, was daran nützlich oder gar interessant sein sollte. Aber wenn wir zu ihr kamen, und das war oft, dann stand ein duftendes Essen auf dem Tisch, gebügelte Stoffservietten und eine Tischdecke gehörten obligat dazu. Und wir fühlten uns herrlich, gewürdigt und ernstgenommen. Für uns war es eine gediegene, edle Atmosphäre wie im Sternerestaurant, nur gemütlicher und herzlicher. Zudem: Tischmanieren ergeben in so einem Ambiente auf einmal Sinn! Wir sollten doch schon anfangen, rief sie uns aus der offenen Küche zu, damit das Essen nicht kalt werde. Alles war schön angerichtet, denn: Das Auge isst mit! – so ihr Credo. Sie übte mit uns für die Schule, drillte uns in Mathe, während unser Großvater für Deutsch zuständig war, und abends erzählte sie uns Geschichten, während am Esstisch und zwischendurch heftig über Politik debattiert wurde. Es war nie so, dass sie sich gelangweilt hätte, sie war immer in Bewegung, gerne auf Reisen oder draußen im Garten. Meine selbstbewussten Großmütter waren moderne Frauen und ganz bestimmt keine »Hausmütterchen«. Sie vermittelten mir, dass es eine wichtige Aufgabe ist, einen Haushalt in Form eines lebendigen Hauses zu führen, und dass hier auch anspruchsvolle Kultur möglich ist, sei es nun in Form von Tischkultur, der Kultur des Dialoges, der klassischen Musik, Literatur oder Kunst.
Meine beiden großen Kinder spielen inzwischen selbst Violine und Klavier. Oft »jammen« wir abends, improvisieren frei oder spielen klassische Stücke zusammen. In der Weihnachtszeit erklingen die Lieder mit zwei Geigen und Klavier, während der Kleine dazu trommelt, singt und rasselt. Er ahmt die Tätigkeiten der Großen nach. Gerne fordert er seinen Platz auf dem Klavierschemel ein und verlangt vehement nach Noten, wenn dort einmal keine stehen. Für uns ist es Spaß und das Zusammengehörigkeitsgefühl stärkende lebendige Kultur.
Fernsehen und Computerspiele dagegen betrachte ich als lästige Zeitverschwendung. Nirgends ist das Gehirn passiver als beim Fernsehen, selbst im Schlaf ist es aktiver (vgl. S. Aamodt/S. Wang, Welcome to Your Child’s Brain , München 2012). Nichtsdestotrotz halte ich die Kinder nicht komplett davon fern, aber als digitalen Babysitter würde ich diese Medien nie einsetzen. Gelegentlich, vielleicht einmal pro Woche, eine genaue Regel haben wir dafür nicht, schauen wir gemeinsam über Onlinedienste gezielt Dokumentarfilme oder auch einmal eine Unterhaltungssendung an. Mir ist es wichtig, dabeizusitzen, sodass wir direkt über aufkommende Fragen reden können.
Kinder alleine vor so einem Gerät »abzustellen«, empfinde ich als Vernachlässigung. Immer wieder sehe ich leider »vollverkabelte« Kinder mit Kopfhörern vor einem Tablet oder Smartphone, sei es nun zu Hause, im Auto, Zug, Restaurant oder in anderen vermeintlich »langweiligen« Situationen. Es gruselt mich regelrecht, wenn ich sehe, wie reglos die Kinder vor diesen Geräten ausharren. Es gibt keine andere Situation im Leben eines Kindes, wo es im Wachzustand derart hypnotisiert vor sich hinstarrt, bewegungslos, starr – und still. Mich erschreckt es, wie die Kinder heutzutage so bedenkenlos ruhiggestellt werden. Was sagt es über unsere Gesellschaft, wenn die Kinder die Erwachsenen nicht »stören« sollen? Sie sollen ihre Lebenskraft, ihre Neugier, ihren Bewegungsdrang, ihren Drang, sich zu zeigen, zu sprechen, sich auszutauschen nicht ausleben? Anstatt etwas gemeinsam zu tun oder sie dazu aufzufordern, sich eine eigene ruhige Beschäftigung zu suchen , werden sie geradezu »abgestellt«. Nichts anderes als das ist es nämlich!
Um unterwegs gelangweiltem Gejammere vorzubeugen, trage ich oft dem Kind entsprechende Bücher bei mir. Wir schauen sie uns zusammen an und erleben dadurch eine wunderbare Zweisamkeit. Tagsüber gehen wir spazieren, fahren Rad, lesen oder sitzen auf dem Balkon, kümmern uns um die Pflanzen, die wir dort wachsen lassen. Es gibt immer etwas zu tun. Wir kochen täglich und backen gelegentlich zusammen. Meistens fange ich an und nach und nach stellen sich die Kinder von sich aus dazu, machen mit, schnappen sich Messer und Brettchen, rüsten Gemüse, schnippeln, werden selbst kreativ, indem sie sich eigene Gerichte ausdenken. Ich lasse sie gerne einfach machen und sorge lediglich für geeignete Rahmenbedingungen. Der Kleine schiebt sich einen Stuhl zur Arbeitsplatte und möchte mitschneiden, rühren, sehen, wie das Olivenöl in der gusseisernen Bratpfanne Muster bildet, wie die Butter zerläuft, die Zwiebeln glasieren und der frische Spinat beim Kochen zusammenfällt. Den täglichen gemeinsamen Mahlzeiten geht ein Tischlied voraus, das gehört fest dazu; abends lese ich den Kindern vor. Oft spiele ich auch nur für mich Geige, eine Mozart-Sonate, Telemann, oder aktuell einen kniffligen Sarasate. Die Kinder beschäftigen sich in dieser Zeit wunderbar selbst, Valentin schnappt sich ein Bilderbuch und macht es sich auf dem Sofa gemütlich oder klimpert auf dem Klavier. Und manchmal singt er lauthals mit.
Für mich war es eine reine Herzensentscheidung, Mutter sein zu wollen. Es ist nicht so, dass ich mir schon mein Leben lang Kinder gewünscht hätte. Wirtschaftliche oder organisatorische Erwägungen spielten bei der Familienplanung keine Rolle. Wenn sie das getan hätten, wäre ich heute nicht Mutter, denn ich hätte es mir objektiv betrachtet wohl nicht leisten können. Das Kind sehe ich als selbständige Person, die ihren eigenen Weg geht. Es ist für mich daher kein Widerspruch, aus ganzem Herzen Mutter und für die Kinder voll da sein zu wollen, und trotzdem (oder gerade deswegen) eigenen Interessen konsequent nachzugehen. Meistens saß ich schon wenige Tage nach der Geburt wieder an meinen Texten und arbeitete, schrieb und telefonierte beruflich. Weil mir meine Arbeit auch Kraft gibt.
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