Ich selbst habe als Mutter von drei Kindern erlebt, was es heißt, wenn Fürsorgearbeit vor dem Gesetz bewertet wird, als ob man Ferien machen würde. Auch wenn die Bedürfnisse meiner Kinder nach einem Zuhause, nach Schutz, Geborgenheit und Einfach-sein-Dürfen, nach Sicherheit, individueller Zuwendung und Entfaltung mir immer wieder gezeigt hatten, dass meine Präsenz wesentlich und immer wieder auch unerlässlich war, vermittelt unsere moderne Gesellschaft ein weitreichend anderes Bild. Die finanzielle Wahlfreiheit, Kinder, solange sie es brauchen, im familiären Umfeld betreuen zu können, wurde abgeschafft. Mütter sollen (sich) nicht mehr sorgen? Mit dieser erschütternden Einsicht entschied ich mich, das Buch »Die verkaufte Mutter« herauszugeben, dem sich noch zwei weitere Mitstreiterinnen anschlossen. Mütter endlich selbst sprechen zu lassen, war unser tiefes Anliegen – sie sichtbar zu machen in ihren Motiven, für ihre Kinder da zu sein.
Inzwischen ist die frühe Fremdbetreuung von Kleinstkindern eine Selbstverständlichkeit geworden, auch wenn immer wieder gut begründete alternative Sichtweisen laut werden. Auch in meiner Arbeit als langjährige biographische Begleiterin haben viele Gespräche mit Klienten verdeutlicht, wie die mangelnde Präsenz von Eltern ein lebenslanges Liebesvakuum hinterlässt, das gleich einem fehlenden Boden wesentliche Entwicklungen im Erwachsenenleben hemmt. Doch der ökonomische Druck und die politische und mediale Inszenierung von »Vereinbarkeit« scheinen die Lebensentwürfe von Eltern zu normieren. Jetzt, in Coronazeiten, in denen die Macht staatlicher Eingriffe in einer nie gekannten Weise unseren Alltag prägt, wird das individuelle Antworten fast existentiell. Besonders Eltern müssen sich ihren Kindern gegenüber neu finden. Beruf und Betreuung können nicht gleichzeitig geschehen. Dabei wird deutlich, dass es eben doch die Mütter sind, die dem Sorgen am nächsten stehen. Offensichtlicher denn je werden sie zwischen gesellschaftlichen, politischen und finanziellen Erwartungen einerseits und den Bedürfnissen der eigenen Kinder andererseits zerrieben. Um ihre Kinder zu schützen und mit ihren Kindern Leben wieder lebbar zu machen, brauchen sie einen besonderen Mut.
Denn vergessen scheint, was immer noch Grundrecht ist:
Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft (GG 6,4) .
Darum geht es in diesem Buch: der Mutterschaft ihre Würde zurückzugeben. Denn ohne die Mutter gibt es kein menschliches Leben. Und es ist nichts Falsches daran, sich für das Leben zu entscheiden. Der Mut moderner junger Frauen zeigt das. Er inspiriert Lebenswege, die ein Sich-treu-Bleiben möglich machen. Denn letztendlich bleibt, wenn die Hoffnung auf die gute Fremdbetreuung zerbricht, die Frage: Was trägt und nährt uns? Mögen die Berichte in diesem Buch gleich Leuchttürmen wegweisende Erfahrungen vermitteln, die Ihnen, liebe Leserin, weiterhelfen können. Einundzwanzig Mütter haben dafür ihre Einsichten auf der Suche nach einer stimmigen Betreuung für ihr Kind niedergeschrieben. In welcher Spannung sie sich dabei zwischen Außen und Innen, zwischen eigenen und fremden Glaubenssätzen und dem liebenden Blick auf das eigenen Kind befinden, macht den Entwicklungsauftrag sichtbar, den die Neue Zeit heute mehr denn je von uns einfordert. Denn der Graben zwischen einem gesellschaftlichen Einheitsparadigma und dem Wachsen in eine individuelle Freiheit – nicht zuletzt auch für unsere Kinder – scheint sich immer weiter zu öffnen.
Dies verdeutlichen auch die einundzwanzig kurzen Berichte von Experten, die sich Themen wie Bindung, Nachahmung, das erste Jahrsiebt, freies Spiel, aber auch politischen Themen wie Elterngeld, Patriarchatskritik, Generationenvertrag oder Care-Revolution widmen. Sie erklären, wie die Verantwortung für eine verbindlich gelebte Mutterschaft, die der Reifung und Entfaltung eines eigenständigen Wesens dient, ökonomisch und politisch ausgehöhlt, ja beinahe unmöglich gemacht wird.
Mütter sind wie ein Zuhause – eine wärmende, nährende und lebendige Hülle, gleichsam einer Fortsetzung der Gebärmutter. Und sie arbeiten mit ihrem Vorbild an der Quelle zukünftigen Lebens. Dabei müssen sie nicht alleinige Bezugsperson bleiben. Was das bedeutet, erzählen die Mütter in diesem Buch. Mutig, eigenwillig und ihrer Intuition folgend, riskieren sie es, Standardfloskeln zu hinterfragen und in Beziehung mit ihrem Kind dessen Lebensumfeld selbst zu gestalten. Denn das ist das Neue in dieser Zeit , die Suche nach der eigenen Wahrheit, die weder Ratgeber noch Mainstream beantworten. Es braucht das Hinwachsen zu einer inneren Freiheit, die neben den eigenen Werten auch die Möglichkeit zur Selbstermächtigung bewusst macht. So lassen uns die Mütter auch teilhaben an ihrer Wut, Verunsicherung und an ihren Zweifeln, an ihren Gefühlen, bevormundet zu werden, zu versagen oder einfach nur überfordert zu sein. Letztendlich sind es immer die Kinder, in deren Trauer oder Strahlen die Antwort liegt. Sie schenken uns das unermessliche Glück, in der Gegenwart ankommen zu dürfen. Das Werdende in der Beziehung zwischen Mutter und Kind, wenn wir es denn zulassen, möchte sich dem Leben offenbaren.
Möge dieses Buch jungen Müttern Mut machen, die gesellschaftspolitischen Entwicklungen zu hinterfragen und die Ernsthaftigkeit ihrer Aufgabe anzuerkennen. Manche Mütter sprechen sogar von einer heiligen Aufgabe: Denn wir lernen darin, nicht weg zuschauen, sondern hin zuschauen. Wir lernen, die Einweihungen des Lebens mit uns selbst zu beantworten. In dieser Selbstheit ist selbstbestimmte Mutterschaft selbstlos. Möge jede Mutter dieses Paradoxon erfahren dürfen.
Sabine Mänken, im April 2020
Dr. Sara Tröster Klemm
Die Kunst der Mütterlichkeit
Sara liebt ihren Beruf als Kunsthistorikerin. Und sie liebt ihre Kinder. Eigentlich hätte sie allen Grund gehabt, für Fremdbetreuung dankbar zu sein. Doch schon ihre Mutter hatte sie gelehrt, »out of the box« zu denken. Für sie ist es das Leben selbst, das sie einlädt, ihren Kindern Zeit zu schenken und mit ihnen im Hier und Jetzt anzukommen .
Auf dem weinroten Teppich, den unsere Vormieter hinterließen, klebt ein gräulicher Kaugummi, für immer untrennbar verschmolzen mit dem Teppichgewebe. Er ist schon immer dagewesen, keiner war‘s. Der Samstagnachmittag ist noch lang, und ich habe es mir bäuchlings auf dem Boden liegend gemütlich gemacht. Die Ideen sprudeln.
Es ist 1989. Wir leben in Basel in einer einfachen Dreizimmerwohnung am Stadtrand. Mit meinem silbernen Füller kritzle ich die Geschichte über ein fast unbekanntes Bergdorf tief in den Schweizer Alpen auf ein weißes Stück Papier. Meine Mutter möchte unbedingt wissen, wie sie ausgeht und ermutigt mich, weiterzuschreiben. Wie am Fließband erfinde ich zur Zeit die wildesten Erzählungen. Märchen und Selbsterlebtes fließen nahtlos ineinander, mein kleiner Bruder hängt mir an den Lippen. Meine Mutter nimmt viele meiner Live-Erzählungen auf Tonband auf. Diese aber schreibe ich auf. In der Küche klappern die Töpfe, der Duft von frisch gebackenem Brot steigt mir in die Nase, die Meerschweinchen quieken aus ihrem Stall heraus, mein Bruder spielt mit seinen Legosteinen und auf dem Schreibtisch meiner Mutter stapeln sich Seminararbeiten, Schulbücher und Kunstbildbände. Sie ist Lehrerin.
Als ich fertig bin, entziffert sie gespannt meine fantastisch-lakonische Story, schmunzelnd, gerührt, mütterlich stolz. Sie lacht! Die Geschichte handelt von »unserem« Dorf, und es ist eine so komische Geschichte, dass sie es sogar ins Schweizer Radio schafft. Denn meine stolze Mutter schickt den Text zu einem Schreibwettbewerb für Kinder und Jugendliche. Sie ermutigte mich auch später immer, meine Ideen durchzudenken, aufzuschreiben, mich auszuprobieren und »out of the box« zu denken.
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