Ein anderes Mal pflanzte sich eine junge Bäuerin neben meinem Auto auf und gestikulierte hilfeheischend wild um sich. An ihrem fast tonlosen Krächzen erkannte ich die virale Kehlkopfentzündung und überließ ihr homöopathische Tropfen. Am nächsten Morgen, so gegen halb acht, rief sie mit fast normaler Stimme an, bedankte sich und fragte, ob sie nochmals dasselbe haben könnte, jetzt hat es nämlich ihren Mann erwischt.
Auch dem Lechnerbauern konnte geholfen werden. Der stand eines Tages in der Ordination mit zwei Augen, die mit ihren zugeschwollenen Lidern an eine aufgeschnittene Handsemmel erinnerten. Dazu wies er einen starken Tränenfluss auf.
„Waren Sie schon beim Arzt damit?“, fragte ich.
„Ja“, sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken. Das wäre hier aber auch nicht gut möglich gewesen.
Trotzdem glaubte ich ihm kein Wort.
Da aber der Lechner einer von den Hartgesottenen war, der höchstens weinte, wenn ihn der Viehhändler angeschmiert hatte, war ich mir sicher, dass er an einer starken Bindehautentzündung litt. Wahrscheinlich durch den Heustaub verursacht, weil das Futter, das der Lechner seinen Rindern vorsetzte, immer knochentrocken war.
„Hat das eine Ihrer Kühe auch?“, fragte ich pro forma.
„Ja“, antwortete er.
Ich glaubte ihm noch immer kein Wort.
„Na schön. Für Ihre Kühe kann ich Ihnen etwas herrichten!“
Ich komponierte, wie es einst auch Mozart mit seinen Noten getan hatte, wieder homöopathische Tropfen in eine Pipettenflasche und gab sie ihm:
„Nur für die Kühe“, schärfte ich ihm ein.
„Geht klar, Herr Doktor!“, grinste er.
Ich glaubte ihm kein Wort.
Einige Tage später stand eine Flasche mit selbstgebranntem Schnaps auf dem Tischchen im Warteraum. Daneben lag ein Zettel, auf dem mit ungelenker Handschrift stand: „Besten Dank, Straberger.“ Das war der Lechner!
Als ich einen Schluck kostete, kamen mir selbst die Tränen.
Aber meine größte Leistung auf dem Gebiet der Kurpfuscherei war die Geschichte mit dem Filzer Kilian. Wenn es ihn nicht gäbe, erfinden könnte man ihn nicht.
Er hatte bereits die Siebzig weit überschritten, war aber immer noch zwei Meter groß und von ausladender Statur.
In seiner Aktivzeit beim Bauhof hatte man gemunkelt, dass er in der Adventszeit die Weihnachtsbeleuchtung über den Straßen ohne Leiter hatte anbringen können.
Jetzt war er längst schon in Pension und machte, weil er nie einen Führerschein besessen hatte, das Gasteinertal auf dem Sitz seines uralten Steyr-Traktors aus den Fünfzigerjahren unsicher. Unsicher ist vielleicht ein bisschen übertrieben, aber wenn Du hinter ihm mit einem heißen Zwanziger kilometerlang herzuckelst und wegen der Gegenverkehrskolonnen nicht überholen kannst, schmeißt Du schon ein wenig die Nerven weg.
Diesen Zustand kannte der Kilian von seiner Natur aus nicht. In einer stoischen Gelassenheit steuerte er sein historisches Gefährt über die Bundesstraße und ignorierte sämtliches Gehupe und Blinksignale mit dem Fernlicht hinter ihm, frei nach dem Motto „Die Straße ist für alle da, die Vorfahrt aber nicht“.
Beim Traxlerbauern war ich ihm zum ersten Mal persönlich begegnet. Ich hatte dort einer Kuh mit Gebärmutterentzündung den Uterus gespült und gerade, als ich ihr als Zusatz eine antibiotische Injektion verpassen wollte, verfinsterte sich der Stalleingang. Der Kilian musste sich beim Eintritt halb bücken, dann baute er sich neben uns auf und beobachtete mich wortlos bei meinem Tun.
Der Traxler nahm seine plötzliche Anwesenheit ebenso kommentarlos zur Kenntnis. Die einzige, die eine unwillige Lautäußerung von sich gab, war die Kuh, als sie die Nadel im Oberarm spürte.
Das schien den Kilian zu animieren.
„Servus, Herr Doktor! Hast Du nicht auch eine Spritze für mich?“, war seine Begrüßung. „Ich bring’ die Schulter nicht weiter als so.“
Zum Beweis hob er den rechten Arm in die Waagrechte und begann zu stöhnen: „Zwei Mal war ich schon im Spital, aber die wissen dort auch nichts. Nach der Arthroskopie ist es sogar noch ärger geworden mit den Schmerzen.“
Der Traxler feixte: „Die sind halt nicht auf Elefanten wie Dich spezialisiert. Da musst Du freilich den Tierarzt fragen.“
„Genau“, meinte der Kilian, „weil was für eine Kuh gut ist, kann auch den Leuten nicht schaden.“
Prinzipiell gab ich ihm Recht. Zwischen Mensch und Rindvieh besteht gar kein so großer Unterschied, wie ihn sich manche wünschen mögen. Trotzdem erklärte ich kategorisch: „Also eine Spritze kriegen Sie von mir nicht!“
„Na geh! Ihr Viechbader habt doch so manches Wundermittel.“
Die Bezeichnung „Viechbader“ war jetzt nicht gerade der Schlüssel zu meinem Herzen.
Um ihn loszuwerden, förderte ich aus den Tiefen meiner Medikamentenkiste eine bewährte Lahmheiten- & Wundsalbe hervor. „Probieren Sie das! Zwei Mal täglich einschmieren!“
Er drehte die Dose mehrmals in seinen Pranken: „Was bin ich schuldig?“
„Die schenk’ ich Ihnen“, erklärte ich, „in diesem Fall Geld dafür zu kassieren, würde nämlich unter den Kurpfuscherparagraphen fallen.“ Außerdem erwartete ich mir, ehrlich gestanden, keine „Wunder“-Wirkung für seine Schulterprobleme.
Aber ich sollte mich noch wundern!
Einige Wochen danach rief die Bergerhub-Bäuerin an und wollte zweiundzwanzig Dosen Lahmheiten- & Wundsalbe.
Ich war wie vom Donner gerührt: „Ja wollen Sie damit ein Vollbad nehmen?“
„Nein, aber der Kilian hat über die Salbe so gefoppt (regionaler Ausdruck für loben), dass ich gleich für die ganze Nachbarschaft und meine Verwandten eine besorgen soll.“
Mir war gar nicht bewusst, dass es im Gasteinertal von Schulterproblemen nur so wimmelte.
„So viele habe ich nicht auf Lager“, gestand ich, „diese Menge müsste ich erst bestellen.“
„Na, dann bestellen Sie am besten gleich dreißig!“
Langsam beschlich mich das Gefühl, die Bergerhuberin beabsichtigte, die Salbe ihren Hausgästen aufs Frühstücksbrot zu schmieren, um deren Aufenthalt in einen Wellness-Urlaub zu verwandeln.
Als ich das nächste Mal an der Tankstelle stand, passte mich der Kilian, dem ich diesen Großauftrag verdankte, freudestrahlend ab. „Na, was sagen Sie, was ich schon zusammenbring?“, röhrte er von seinem Traktor herunter, dabei hob er scheinbar mühelos den Arm über den Kopf. „Ich hab’ ja gewusst, ihr Viechbader habt’s Tricks auf Lager, dass sich die Ärzte davon eine Scheibe herunterschneiden können!“
„Freut mich, freut mich“, murmelte ich. Noch mehr hätte mich aber gefreut, wenn er mich nicht dauernd Viechbader nennen würde.
Seither riss er, wenn wir uns auf der Straße begegneten, schon von Weitem triumphierend den Arm zum Gruß in die Höhe. Weil er dabei auch die flache Hand ausstreckte, hoffte ich für ihn, dass ihn niemand wegen Wiederbetätigung anzeigte.
Die nächste Episode lieferte er ein Jahr darauf ab. Eines schönen Tages läutete es so gegen halb neun am Morgen an unserer Haustüre.
Ich war natürlich schon längst unterwegs, nur Karin, die gerade ihre sieben Zwetschken für die Schule zusammenzupacken im Begriff war, war noch daheim.
Sie drückte auf die Gegensprechanlage, konnte aber auf dem Bildschirm außer ein paar unidentifizierbaren Hemdknöpfen nichts erkennen. Kein Wunder, das Gesicht vom Kilian befand sich oberhalb des Kamerawinkels.
„Ja bitte?“
„Ist der Doktor da?“, kam es aus dem Lautsprecher.
„Leider nein. Mein Mann ist um diese Uhrzeit auf Visite.“
„Ich brauch ihn aber!“
„Da müssen Sie vorher anrufen!“
„Ich hab kein Handy!“
„Na, dann von Zuhause!“
„Ich bin aber nicht zuhause. Ich bin jetzt da!“
Der Dialog nahm einen etwas mühsamen Charakter an. Karin versuchte es anders: „Worum geht es denn? Kann ich ihm was ausrichten?“
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