Christian Kuchler
Lernort Auschwitz
Geschichte und Rezeption
schulischer Gedenkstättenfahrten
1980–2019
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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© Wallstein Verlag, Göttingen 2021
www.wallstein-verlag.de
Umschlag: Susanne Gerhards, Düsseldorf
Umschlagbild: Quelle: ASEE A14-111-331
ISBN (Print) 978-3-8353-3897-5
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4620-8
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4621-5
Lernort
1 Exkursionsziel Auschwitz
2 Fragestellung, Archivsituation und methodisches Vorgehen
3 Forschungsstand
Geschichte
1 Vom größten NS-Lager zur internationalen Gedenkstätte
2 Erste Gruppenreisen aus Deutschland zum Staatlichen Museum
3 Vom Nischenangebot zur Routine: Schulische Exkursionen nach Auschwitz-Birkenau
3.1 Gedenkstättenbesuche als Teil schulischer Rundreisen durch Polen
3.2 Zunehmende Fokussierung auf die Gedenkstätte
3.3 Zentraler Lernort schulischer wie außerschulischer Bildungsangebote
Rezeption
1 Wahrnehmung der Gedenkstätte im Rahmen schulischer Polenrundreisen (1980-1991)
2 Wahrnehmung der Gedenkstätte im Rahmen schulischer Auschwitzfahrten (2010-2019)
2.1 Zwischen Angst und Vorfreude: Erwartungen vor der Ankunft in Oświęcim
2.2 Eindrücke unmittelbar nach dem Besuch der Gedenkstätte
2.3 Zusammenfassende Bewertung der Schwerpunkte aktueller schulischer Besuche der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau
3 Wahrnehmung schulischer Gedenkstättenfahrten mit zeitlichem Abstand
3.1 Lernen aus der Geschichte oder Lehren aus der NS-Diktatur
3.2 Konsequenzen des Gedenkstättenbesuchs für das alltägliche Leben?
Virtuelle Realitäten
1 Plötzliches Ende schulischer Gedenkstättenfahrten und Kompensationsmöglichkeiten mittels Augmented Reality und Virtual Reality
2 Mit 360°-Perspektive »Inside« Auschwitz : Möglichkeiten und Grenzen des virtuellen Besuchs
3 Virtual Reality als Ergänzung und Zukunftsoption
Zukunft
1 Befunde
2 Neue Schwerpunkte für schulische Gedenkstättenexkursionen
Historischer Ort im Mittelpunkt
Es muss nicht immer Auschwitz sein
Ängste vermeiden
Emotionen sinnvoll nutzen, Zeit für Wahrnehmung und Austausch gewähren
Internationale Dimension des Gedenkens
Täter nicht vergessen
Gedenkstättenexkursionen als integraler Teil des schulischen Geschichtsunterrichts
3 Gedenken als bleibende Aufgabe
Quellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Dank
Anmerkungen
Lernort
1 Exkursionsziel Auschwitz
Auschwitz zählt zu den am häufigsten von deutschen Schulen besuchten Exkursionszielen im Ausland. Tausende von Schülerinnen und Schülern reisen alljährlich zur dort eingerichteten Gedenkstätte mit dem offiziellen Titel Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau .[1] Ziel der Studienfahrten ist es, bei einem Besuch am historischen Ort dessen angebliche authentische Dimension zu erfahren und für das Lernen über die Shoah nutzbar zu machen.[2] Schließlich ist es gerade jene »Aura« des Geschehensortes, der ein hohes Motivationspotenzial für das individuelle historisch-politische Lernen zugeschrieben wird.[3] Wenn also Auschwitz, das in Deutschland lange ein »eigentümlich ortloser Ort«[4] geblieben war, inzwischen alljährlich von Hunderten deutscher Schulgruppen besucht wird, verwandelt sich der Schauplatz des »größten Verbrechens der Geschichte der Menschheit«[5] zunehmend zu einem »Lern-Ort«. Er wird damit absichtsvoll in den Unterricht miteinbezogen und ausschließlich zum Zwecke des Lernens besucht.[6] Das vormalige Lager wird auf diese Weise zum Gegenstand des schulischen Unterrichtens und die Exkursion ergänzt das zuvor im Klassenzimmer erworbene Wissen über den Nationalsozialismus und die Shoah.
An der Eignung der Gedenkstätte im Süden Polens als Lernort scheint in der Öffentlichkeit keinerlei Zweifel zu bestehen,[7] zumal mit dem Ortsnamen Auschwitz häufig viel beachtete bildungspolitische Kontroversen verbunden waren und sind.[8] Um gegen wiedererstarkenden Antisemitismus und Rassismus sowie gegen Vorurteile aller Art vorzugehen, schlagen Politikerinnen und Politiker quer durch alle demokratischen Parteien immer wieder vor, schulische Besuche an Gedenkstätten früherer NS-Lager weiter auszubauen oder sogar verpflichtend in den Curricula zu verankern.[9] Zuletzt hat Wolfgang Benz der seit Jahren in unregelmäßigen Abständen aufflammenden politischen Debatte um Pflichtbesuche eine »erstaunliche Wiedergängerqualität in der deutschen Öffentlichkeit« attestiert und auf die völlig überhöhten Erwartungen hingewiesen.[10] Doch finden derartige Mahnungen aus Geschichtswissenschaft und Gedenkstättenpädagogik in der Öffentlichkeit selten Gehör. Ausweislich einer Umfrage vom Januar 2020 sollen 75 Prozent der Deutschen schulische Pflichtbesuche in ehemaligen NS-Lagern befürworten und damit ausdrücklich einem Schlussstrich unter die Erinnerung an den Nationalsozialismus eine Absage erteilen.[11]
Die Mehrheit der Deutschen vertraut wohl weiterhin auf die Lerneffekte der Bildungsangebote und pädagogischen Programme in Gedenkstätten.[12] Bei einem Besuch sollten die Gäste überzeugt werden, »durch ihr eigenes Leben zu einer Welt beizutragen, in der ein Schrecken von der Art des erinnerten sich nicht mehr ereignen darf oder kann«.[13] Der Eindruck entsteht, als wären die ehemaligen Tatorte inzwischen zu Bildungsstätten transformiert.[14] Dabei beschränkt sich das Vertrauen selbstredend nicht auf Einrichtungen in Deutschland, sondern schließt – dies vielleicht sogar in noch verstärktem Maße – Gedenkstätten in anderen Ländern ein. Formal verankert ist diese Internationalisierung seit Dezember 2014, als die Gemeinsame Kultusministerkonferenz der Länder das Konzept Erinnern für die Zukunft. Empfehlungen zur Erinnerungskultur als Gegenstand historisch-politischer Bildung in der Schule [15] verabschiedete. Darin forderten die Ministerinnen und Minister ihre Schulen auf, nicht nur verstärkt historische Exkursionen in den Unterrichtsalltag aufzunehmen, sondern zudem bewusst Ziele im Ausland anzusteuern. Seither reisen Lernende, wenn sie KZ-Gedenkstätten aufsuchen, nicht mehr »nur« zu Stätten innerhalb Deutschlands, wie etwa Bergen-Belsen, Buchenwald, Dachau oder Sachsenhausen, sondern zunehmend auch ins Ausland. Neben Fahrten baden-württembergischer Schulen nach Frankreich in die nahe gelegene Gedenkstätte Natzweiler-Struthof[16] oder bayerischer Gruppen ins österreichische Mauthausen sind dies vor allem Exkursionen nach Oświęcim. Das dortige Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau wird von der bundesdeutschen Bildungspolitik immer wieder hervorgehoben und seine Bedeutung als Lernort für deutsche Schülerinnen und Schüler unterstrichen.[17] Namentlich scheint man dem Besuch der Überreste des vormals größten Lagers innerhalb des NS-Terrorsystems[18] zuzuschreiben, worüber sich schon Überlebende wie Maurice Goldstein, der langjährige Präsident des Internationalen Auschwitz Komitees , sicher waren: Besuche in Auschwitz veränderten Menschen – jeden Menschen.[19]
Es ist nicht schwer, auf dem Buchmarkt entsprechende Titel zu finden, die diesen Optimismus weitertragen.[20] Manche Berichte im Nachklang zu Gedenkstättenfahrten spiegeln dieses Bild ebenfalls wider.[21] Zu fragen ist aber, ob es tatsächlich so einfach ist, die inzwischen klassisch gewordene Forderung Theodor W. Adornos aus dem Jahr 1966 zu erfüllen. Kann bereits der einmalige Besuch des ehemals größten NS-Lagers und der dort heute existierenden Gedenkstätte einen grundlegenden Beitrag dazu leisten, »dass Auschwitz nicht noch einmal sei«[22]? Dieser Überlegung will die vorliegende Studie nachgehen, indem sie das Potenzial des Lernortes Auschwitz ausleuchtet und diskutiert.
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