Die vielfältigen Archivbestände eröffnen der Forschung zu Gedenkstättenbesuchen eine Fülle von Möglichkeiten, schließlich sind sie im regulären Schulbetrieb entstanden. Als die Schülerinnen und Schüler ihre Texte verfassten, wussten sie nicht, dass diese später zur Grundlage eines Forschungsprojektes werden würden. Vielmehr verorteten sich die Autorinnen und Autoren bei der Abfassung ihrer Texte in ihrem gewohnten schulischen Umfeld, wenngleich im Kontext einer schulischen Exkursion. Umso höher kann der Wert ihrer Aussagen eingestuft werden. Unabhängig davon hebt sich diese Analyse von vergleichbaren Studien dadurch ab, dass nicht die Gedenkstätte als Labor gesehen wurde oder der Gedenkstättenbesuch unter Laborbedingungen stattfand. Vielmehr ermöglicht die Fülle an archivierten Reisedokumentationen einen annähernd repräsentativen Einblick in die gegenwärtige Form der Exkursionsgestaltung sowie in deren Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung.
Gleichwohl ist aus den archivierten Exkursionsberichten nicht abzuleiten, ob die Schulgruppen bei ihrem Besuch im Staatlichen Museum tatsächlich Impulse aufnahmen, die sie langfristig prägten. Vor allem die in der vorliegenden Studie besonders thematisierten handschriftlichen Quellen entstanden unter dem unmittelbaren Eindruck des Erlebten. Nicht zu klären ist auf dieser Basis, ob die Ausführungen der Jugendlichen nur bloße Schlaglichter darstellen oder ob der Besuch im früheren Lager sie langfristig beeinflusst hat. Wenn aber ein nachhaltiger Effekt wahrzunehmen sein sollte, ist zu fragen, welche Impulse es waren, die Jugendliche des 21. Jahrhunderts just am Schauplatz des »größten Verbrechens der Geschichte der Menschheit«[56] aufnahmen. Um dies zu klären, wird im Kapitel Rezeption der klassisch geschichtswissenschaftliche Zugang über Quellen um eigengeneriertes Datenmaterial ergänzt. Bewusst wurde dabei nicht die in vielen quantitativen Studien genutzte Methode, geschlossene Items in Fragebögen abzutesten,[57] herangezogen, sondern das offenere Verfahren der Gruppendiskussion mit leitfadengestützten Interviews eingesetzt.[58] Als Forschungspartnerinnen und Forschungspartner wirkten Lernende mit, die mit ihren Schulen selbst zum Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau gereist waren und 10 bis 22 Monate nach ihrer Rückkehr befragt wurden. Die leitfadengestützten Interviews sollen zumindest die Möglichkeit bieten, vertiefte und exemplarische Einblicke in die Rezeptions- und Denkwelten der Lernenden zu erlangen und deren Wahrnehmung und Verständnis der Exkursion zu erhellen. An drei verschiedenen Schulen konnten Jugendliche der Sekundarstufe II befragt werden, die allerdings alle einen Leistungskurs im Fach Geschichte belegt hatten. Die Einschätzungen dieser am Fach sicherlich besonders interessierten Gruppe stehen zwar nicht repräsentativ für alle Schülerinnen und Schüler in Deutschland. Dennoch ergänzen ihre Einschätzungen mit zeitlichem Abstand die zunächst untersuchten schriftlichen Reisedokumentationen. Das gilt umso mehr, als die in Gruppendiskussionen interviewten Personen keine schriftlichen Dokumentationen zu ihren Exkursionen verfasst hatten und deshalb nicht im ersten Teil der Analyse berücksichtigt sind. Beide Zugriffe sollen gemeinsam eine Überprüfung ermöglichen, ob die gesellschaftliche Erwartungshaltung tatsächlich zutrifft, ein Besuch in Auschwitz immunisiere gegen Antisemitismus und Rassismus und fördere zugleich die Ausprägung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins sowie einer demokratischen Grundhaltung.
Insgesamt ergibt sich aus der Analyse der umfangreichen Archivbestände sowie der Interviewerhebung eine Tiefenbohrung, die in ähnlicher Weise zur Geschichte und zum Ertrag von Exkursionen deutscher Schulen zu einer Gedenkstätte bislang noch nicht vorgelegt wurde. Ein vergleichbarer Längsschnitt zur Entwicklung von Schulreisen zu einem früheren Lager fehlt bislang ebenso wie eine breit angelegte Untersuchung zur Rezeption solcher Fahrten bis in die Gegenwart. Interessant daran ist vor allem die quantitative Breite der Untersuchungsbasis. Ausgewertet wird nicht nur der Besuch einer Kleingruppe oder einer bestimmten Schule, sondern das Besuchsverhalten der letzten vier Jahrzehnte. Daraus ergibt sich eine besondere Ausweitung in der Perspektive, da Lernende unterschiedlichen Alters (von der 9. Jahrgangsstufe der allgemeinbildenden Schule bis hin zu jungen Erwachsenen an Berufskollegs), aus allen Schulformen (mit deutlichem Schwerpunkt auf den Gymnasien und unter Ausnahme der Grundschule), aller sozialen Schichten und Herkunftskontexten und aller Regionen untersucht wurden.[59] Ähnlich plural sind die Zugangswege der Gruppen zum »Lernort« in Auschwitz-Birkenau. Die skizzierte Bandbreite der Fahrten bildet also eine stabile Basis für eine umfassende Erhebung. Zu fragen wird letztlich sein, ob schulische Exkursionen nach Oświęcim tatsächlich ein »Erinnern ermöglichen«, wie es der ebenso optimistische wie verheißungsvolle Titel der einschlägigen Stiftung verspricht. Fast zeitgleich zum Beginn der Arbeit der Stiftung hatte Volkhard Knigge genau diese Hoffnung zurückgewiesen, da der Erinnerungsbegriff besonders für junge Menschen nicht mehr tauglich erscheine, ohne zugleich eine Schuldzuweisung an die nachwachsende Generation vorzugeben.[60]
Das anschließende Kapitel Virtuelle Realitäten nimmt dann die grundsätzliche Veränderung der schulischen Realität seit der Corona-Pandemie auf, indem es die Frage aufwirft, ob persönliche Besuche an Gedenkstätten zwingend nötig sind oder ob sie nicht durch digitale Formate ersetzt werden können. Erörtert werden soll dabei, ob neue Techniken wie etwa Augmented Reality, Virtual Reality oder 360°-Filme als Ergänzung oder Ersatz klassischer Exkursionen dienen können. Neben einer aktuellen Bestandsaufnahme hinsichtlich der virtuellen Angebote verschiedener Gedenkstätten steht dabei vor allem die schulische Einsatzfähigkeit eines 360°-Films im Zentrum der Betrachtung. Am Beispiel der preisgekrönten Produktion Inside Auschwitz – Das ehemalige Konzentrationslager in 360° soll überprüft werden, welchen Lernerfolg Jugendliche erzielen, wenn sie mittels der Produktion sich dem historischen Ort nähern. Um die Qualität der Ortserkundung ermessen zu können, arbeitet die Studie mit zwei Probandengruppen, die sich vor allem darin unterscheiden, dass eine von ihnen das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau bereits besucht hat, während die anderen Befragten eine solche Exkursion nicht gemacht hatten und auch nicht vor sich hatten. Beide Gruppen wurden mit Fragebögen um ihre Einschätzung gebeten, nachdem sie den Film jeweils einmal gesehen hatten. Aus der Gegenüberstellung soll abgeleitet werden, inwieweit Inside Auschwitz sich eignet, um einen ersten Kontakt zum historischen Ort herzustellen oder ob Inside Auschwitz nur als Auffrischung der eigenständig in der heutigen Gedenkstätte erworbenen Erfahrungen einsetzbar ist.
Abgerundet wird die Untersuchung schließlich vom Kapitel Zukunft. Während im ersten Abschnitt die bedeutsamsten Ergebnisse der vorgelegten Studie skizziert werden, werden danach aus den Befunden weiterführende Hinweise abgeleitet, die neue Schwerpunktsetzungen für künftige schulische Gedenkstättenfahrten vorlegen. In sieben Kernkriterien zusammengefasst, soll pointiert weitergegeben werden, worauf vor allem Lehrkräfte bei der Planung von künftigen Exkursionen achten sollten, um die Fahrten nicht in den Eindruck eines zunehmend verstaubten Rituals immer gleich ablaufender Besuche zu rücken. Schließlich stehen gerade Schulen immer wieder vor der Frage, die schon Roman Herzog vor einem Vierteljahrhundert als damaliger Bundespräsident erkannt hatte: Das Gedenken an die Verbrechen der NS-Herrschaft und die Trauer über ihre Opfer muss für jede Generation in neue Formen gegossen werden. Wie dies künftig aussehen kann, nachdem gerade in den letzten Jahren Fahrten zum Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau von Schulen oft als eine zeitgemäße Form des Gedenkens und Trauerns angesehen wurde, soll mit den abschließenden Vorschlägen im Kapitel Zukunft zur Diskussion gestellt werden.
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