Beantwortet werden soll diese Frage in zwei Schritten. Zunächst geht es darum, zu klären, wie aus dem – gerade auch bei Adornos bekanntem Diktum – primär symbolisch verstandenen Ort ein konkreter Lernort hatte werden können. Schließlich war Auschwitz nach 1945 nicht nur von der geografischen Landkarte verschwunden, sondern auch der Ort Oświęcim für die Deutschen in Ost wie in West kein fassbarer Begriff. Wie konnte sich also aus dem verdrängten Raum ein Attraktivitätszentrum für pädagogische Ziele entwickeln, das heute höchst anerkannt ist und in seiner Bedeutung als Lernort nicht in Abrede gestellt wird?
Um dies nachzuzeichnen, gibt der Abschnitt Geschichte zunächst einen kursorischen Blick auf die Geschehensorte Auschwitz und Birkenau in den Jahren 1940 bis 1945, ehe dann die Entstehungsgeschichte der Gedenkstätte skizziert wird. Aufbauend darauf stehen anschließend die ersten, primär politisch motivierten Gruppenreisen aus der Bundesrepublik und der DDR im Mittelpunkt. An ihnen ist zu prüfen, inwieweit etwa die Fahrten der Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken oder der beiden christlichen Friedensinitiativen Aktion Sühnezeichen und Pax Christi nachweislich Vorbildcharakter für spätere schulische Exkursionen einnahmen.[44]
Dargestellt werden danach die ersten schulischen Fahrten zum »Lernort« Auschwitz. Es handelte sich dabei primär um umfangreiche, bis zu zwölf Tage umfassende Polenreisen, die zwischen 1980 und 1991 von der Robert Bosch Stiftung angeregt und gefördert wurden. Ein inhaltlicher Schwerpunkt lag dabei stets auf der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit;[45] nur etwa zehn Prozent der schulischen Rundreisen in die damalige Volksrepublik Polen kamen ohne den fast obligatorischen Besuch einer Gedenkstätte aus. Unter ihnen aber ragt das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau eindeutig heraus.[46] Mehr als zwei Drittel aller Fahrten suchten die dortige Gedenkstätte auf.[47]
Bedeutsam ist dies für die vorliegende geschichtswissenschaftliche Analyse, da zu diesen Schulexkursionen eine Vielzahl von Dokumentationen überliefert sind, die von teilnehmenden Schülerinnen und Schülern erstellt wurden. Schon das frühe Beispiel der Robert Bosch Stiftung belegt demnach ein singuläres Phänomen für deutsche Gedenkstättenfahrten: Zahlreiche Gruppen dokumentierten den Ertrag ihrer Fahrten nach Oświęcim in schriftlichen Berichten, die mehr oder weniger auf die Rezeption des Gesehenen durch Lehrende und Lernende eingehen. Ähnliche Berichte sind für keine andere Gedenkstätte in vergleichbarer Quantität und zeitlicher Erstreckung verfügbar. Anders als bei Reisen innerhalb Deutschlands, wo für die Beantragung von Fördermitteln keine abschließende Dokumentation eingefordert wurde und wird, können damit anhand der einschlägigen Akten vertiefte Erkenntnisse zum Ablauf, zur Bewertung und zur Wahrnehmung der Fahrten in das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau angestellt werden. In diesem Sinne verwahrt das Archiv der Robert Bosch Stiftung einen Schatz für die geschichtsdidaktische, bildungspolitische und bildungsgeschichtliche Forschung, der gleichwohl bislang kaum von der Wissenschaft wahrgenommen worden ist.[48] In der vorliegenden Studie wird er ergänzt um andere, ähnlich gelagerte Bestände. Dabei handelt es sich um Reisedokumentationen von Schülerinnen und Schülern aus den Jahren 1986 bis 1990, die im Deutschen Polen Institut Darmstadt verwahrt werden,[49] ebenso wie um Material, das für die Analyse von Exkursionen zwischen 2010 und 2015 in der Registratur des nordrhein-westfälischen Schulministeriums bereitgestellt wurde. Den umfangreichsten Bestand an schulischen Exkursionsdokumentationen zu Fahrten zum Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau verwahrt allerdings das Archiv der Stiftung Erinnern ermöglichen . Deren Bestände zu Exkursionen nach dem Jahr 2010 erst lassen es zu, die vorliegende Untersuchung bis nahe an die aktuelle Gegenwart heranzuziehen und sie damit nicht nur bildungsgeschichtlich anschlussfähig zu machen, sondern Ergebnisse mit Relevanz für die aktuelle Schulpraxis vorzulegen. Versucht wird daher, die Befunde zu den historischen und den aktuellen Gedenkstättenreisen zu bündeln. Sie sollen nach dem von der Corona-Pandemie ausgelösten Stopp aller schulischer Exkursionen neue Impulse für diese außerschulischen Lernorte vorlegen und damit den künftigen Geschichtsunterricht und seine Exkursionspraxis befruchten. Von der entstehenden Dissertation von Fiona Roll, die sich auf Basis der Archivunterlagen der (Selbst-)Reflexivität in den Narrationen von Lernenden annimmt, sind zudem wichtige Impulse für die geschichtsdidaktische Forschung zu erwarten.
Innerhalb der Überlieferung zu Fahrten deutscher Schulen nach Oświęcim besteht trotz der genannten Breite an Archivmaterial eine nennenswerte Lücke, die sich aus der Dokumentationspraxis des Deutsch-Polnischen Jugendwerks (DPJW) ergibt. Zwar unterstützte es seit seiner Gründung im Jahr 1991 bis ins Jahr 2015 ebenfalls mononationale Fahrten deutscher Schulgruppen nach Oświęcim, doch das DPJW forderte von den Antragstellenden keine eigenständigen Berichte der Lernenden. Vielmehr begnügte es sich neben einem Finanzbericht mit knappen, sehr formalisierten Fragebogenauskünften, die zudem fast immer von den Lehrkräften abgegeben wurden. Für die hier verfolgte, schülerzentrierte Fragestellung sind die Bestände also wenig aussagekräftig. Ferner werden alle Unterlagen des Deutsch-Polnischen Jugendwerks nach fünf Jahren vernichtet. Im Zuge der Arbeiten an der vorliegenden Studie konnten daher nur Anträge aus dem Jahre 2014 eingesehen werden, ehe sie dann geschreddert wurden. Aus ihnen ergaben sich aber keine wesentlichen Impulse, weshalb zur Förderungspolitik des Deutsch-Polnischen Jugendwerks vor allem statistische Angaben aus dessen Archiv und den publizierten Jahresberichten herangezogen werden. Sie belegen aber, wie bedeutsam die Rolle des DPJW bei der Förderung von Gedenkstättenfahrten nach Auschwitz-Birkenau war, da es die Kontinuität deutscher Schulfahrten zu Gedenkstätten nach Polen zwischen 1991 und 2015 gewährleistete. Damit lassen sich in einer Gesamtschau aus den skizzierten Beständen sehr gut die Kontinuitäten und Wandlungsprozesse in den schulischen Gedenkstättenfahrten zum Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau für die zurückliegenden vier Jahrzehnte rekonstruieren.
Als zweiter Arbeitsschritt schließt sich der Abschnitt Rezeption an. Bewusst aufbauend auf den benannten Quellenbeständen und auf den Ergebnissen der vorangestellten diachronen Analyse folgt eine synchrone Untersuchung dessen, was Schülerinnen und Schüler bei ihren Reisen nach Oświęcim erfahren, gelernt und internalisiert haben. Möglich ist diese Schwerpunktsetzung, weil es dem Autor möglich war, das bisher nicht erschlossene Archiv der Stiftung Erinnern ermöglichen wissenschaftlich auszuwerten.[50] Darin finden sich, ähnlich den Beständen der Robert Bosch Stiftung für die frühen Jahre bis zum Beginn der 1990er Jahre, Hunderte Dokumentationen zu schulischen Exkursionen. Dabei gingen die aus Nordrhein-Westfalen zwischen 2010 und 2015 durchgeführten schulischen Reisen, die von der Stiftung Erinnern ermöglichen finanziell unterstützt wurden, vorrangig zu einem früheren Lager in Polen – in fast allen Fällen war dies Auschwitz (98,5 Prozent der bewilligten Anträge).[51] Voraussetzung für die Stiftungsförderung war eine Berichterstattung über die gesammelten Eindrücke durch die Jugendlichen nach ihrer Rückkehr. Diese Darstellungen dienen als zentraler Gegenstand des zweiten Arbeitsschrittes, da mit ihnen Quellen vorliegen, die als aussagekräftig anzusehen sind, gerade weil ihnen keine exakten Vorgaben zur Erstellung zugrunde lagen und sie in ihrer inhaltlichen Ausrichtung, grafischen Gestaltung und detaillierten Beschreibung höchst unterschiedlich ausfallen. So lässt sich auf Basis dessen, was die Jugendlichen schreiben, nachvollziehen, welche spezifischen Eindrücke, welches zusätzliche Wissen und welche Erfahrungen sie bei ihrer Reise erwarben. Die Dokumentationen zeigen auf, welche Schwerpunkte die Jugendlichen setzten, was sie ausklammerten, welche Auswertungen sie vornahmen und welche Eindrücke sie gewannen. Allerdings ist bei der Arbeit mit den Berichten stets zu bedenken, dass die Lernenden ihre Texte nicht intrinsisch motiviert für sich selbst verfassten. Vielmehr erstellten sie sie ganz bewusst für die ihre Reise finanziell maßgeblich fördernde Institution. Ein wesentlicher Grad an sozialer Erwünschtheit ist also bei den schriftlichen Abhandlungen immer mit zu bedenken.[52] Für die Analyse folgt daraus, dass aus den Beständen der Stiftung Erinnern ermöglichen vor allem Fahrtdokumentationen herangezogen werden, die spontan und handschriftlich noch während der Reise entstanden. Sie drücken weitgehend ungefiltert die Eindrücke und Gedanken der Jugendlichen aus. Ihre unmittelbaren Reaktionen sind es, die für die Analyse aussagekräftig sind. Allerdings reduziert sich mit diesem Zugriff zugleich die Quantität der Untersuchungsbasis. Aus den mehr als 600 Berichten, die im Archiv der Stiftung Erinnern ermöglichen vorliegen, fokussiert sich die vorliegende Arbeit damit auf 52 Berichte, die zumindest teilweise handschriftliche Beiträge enthalten und zwischen 2010 und 2019 entstanden.[53] Hingegen spielen die Ergebnisberichte, die erst nach der Rückkehr aus Polen geschrieben wurden, in der Auswertung nur eine untergeordnete Rolle. Der Bestand an aufwändig hergestellten Dokumentationen, die zumeist unter aktiver Mit- und Einwirkung von Lehrkräften entstanden, dient nur vereinzelt als Vergleichsfolie für die weitere Analyse der unmittelbaren Fahrteindrücke. Gänzlich ausgeklammert bleiben dagegen die von den Gruppen produzierten (Dokumentar-)Filme[54] ebenso wie die musealen Präsentationen, die Lernenden im Anschluss an ihre Reisen in der eigenen Schule oder in anderen öffentlichen Räumen ausstellten. Vor allem bei diesen Präsentationsformen, die oftmals erst sechs Monate nach der eigentlichen Fahrt abgeschlossen waren und dem Publikum zugänglich wurden, kann von einer Dokumentation der unmittelbaren Eindrücke am historischen Ort nicht mehr die Rede sein.[55]
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