Christian Kuchler - Lernort Auschwitz

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Sind Gedenkstättenbesuche von Schülerinnen und Schülern in Auschwitz-Birkenau zielführend?
Der Debatte um verpflichtende Besuche in KZ-Gedenkstätten für alle deutschen Schülerinnen und Schüler fehlt häufig etwas Grundsätzliches: Grundlegende Ergebnisse zum Lernerfolg solcher Schulfahrten. Auf Basis erstmals ausgewerteter Quellen untersucht Christian Kuchler schulische Auschwitz-Besuche der letzten vier Jahrzehnte. Deutlich wird dabei, wie Schülerinnen und Schüler ihre Zeit am historischen Ort wahrnehmen und bis in die Gegenwart reflektieren. Thematisiert werden beispielsweise die Ängste der Schülerinnen und Schüler im Vorfeld ihrer Ankunft in Oświęcim und der Umgang der Lernenden mit den von der Gedenkstätte ausgelösten Emotionen. Neben der Wahrnehmung der Gedenkstätte unmittelbar nach dem Besuch nimmt der Autor auch den langfristigen Lernerfolg des Aufenthalts am «Lernort Auschwitz» in den Blick. Ergänzt wird die Untersuchung zur Rezeption des historischen Orts um Überlegungen zur Einbeziehung von virtuellen Angeboten in den Schulunterricht: Können sie künftig sogar Besuche an Gedenkstätten wie Auschwitz-Birkenau ersetzen?
Aus den Befunden für die weltweit größte Holocaust-Gedenkstätte werden Thesen abgeleitet, die künftige Schulexkursionen zu Orten des NS-Terrors anregen sollen.

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Wenig strittig dürfte zunächst sein, dass sich in Oświęcim sehr günstige Rahmenbedingungen für schulisches Lernen finden lassen. Die geschichtsdidaktische Forschung hat als Voraussetzungen für einen ertragreichen Einbezug historischer Orte in den schulischen Geschichtsunterricht vier Kriterien formuliert,[23] welche das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau zu garantieren scheint. In der Tat haben sich, erstens, auf dem Areal der ehemaligen Lager geschichtlich höchst bedeutsame Ereignisse abgespielt, deren Behandlung zu den kanonischen Themen des Geschichtsunterrichts (nicht nur in Deutschland) gehört. Zweitens lassen sich bei einem Besuch an den heute noch sichtbaren Relikten sowohl in Auschwitz I als auch in Auschwitz II relevante Strukturen der Geschehenszeit ablesen und rekonstruieren. Das Agieren der Täter ebenso wie das Leiden der Opfer kann bestimmten Räumen zugeordnet werden. Daneben wirkt Birkenau auf die Gedenkstättenbesucher durch seine unglaubliche Dimension. Bereits die Größe des früheren Lagerkomplexes von mehr als 191 Hektar belegt bei einem Besuch die Unmenschlichkeit der NS-Ideologie. Drittens werden Lernende bei einem Besuch des heutigen Staatlichen Museums erkennen, wie stark sich der historische Ort seit 1945 verändert hat. Er entspricht nicht mehr dem zeitgenössischen Zustand am Tag der Befreiung des Lagers. Noch weit weniger ist er deckungsgleich mit den Filmkulissen, die den Lernenden schon vor ihrer Reise an den Geschehensort aus Leinwandproduktionen wie Schindlers Liste vertraut sind. Vielmehr waren die zu besuchenden Räume schon in den Jahren zwischen 1940 und 1945 einem ständigen Wandel unterworfen,[24] was sich für die Zeit nach der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 weiter beschleunigt hat. Besonders in der musealen Gestaltung des seit 1947 existierenden Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau schlägt sich diese geschichtskulturelle Prägung nieder.[25] Die erinnerungspolitische Nutzung des Ortes bis in die Gegenwart stellt eine vierte Dimension dar, die Lernende bei ihrer Fahrt nach Oświęcim erfahren und ergründen können.

Vielleicht ist es tatsächlich diese fast idealtypische Passung des historischen Ortes zum Geschichtsunterricht, vielleicht zieht viele Gruppen aber nur primär die Prominenz des Namens an: Das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau ist inzwischen kein »Geheimtipp« mehr für deutsche Schulen. Besaß der Besuch im Süden Polens bis in die 1990er Jahre noch einen Hauch von Exklusivität,[26] so finden Exkursionen dorthin inzwischen in sehr hoher Zahl statt, wie die vorliegende Arbeit noch ausführlich darstellen wird. Die schulischen Fahrten tragen damit ihren Teil zum enormen Ansturm der Besucherinnen und Besucher bei, dem sich das Staatliche Museum seit Jahren gegenübersieht. Lag die Zahl der jährlichen Gesamtgäste noch bis Mitte der 1990er Jahre bei etwa 500.000, so stieg das Interesse danach rasch an und hat sich bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie bei über zwei Millionen Gästen eingependelt.[27] Wenn aber etwa zwei Drittel der Gäste Jugendliche sind, demonstriert das das große Interesse von Bildungseinrichtungen an Besuchen in Oświęcim, vor allem von Schulen – nicht nur aus Deutschland.[28]

Mit der enormen Nachfrage einher geht eine häufige Überfüllung der Gedenkstätte. Die Menschenmassen, die sich dort vornehmlich in den Hauptreisezeiten des Sommers regelrecht ballen, lassen einen ungehinderten Besuch des historischen Ortes oft kaum mehr zu. Für die Bundeszentrale für politische Bildung resultierte aus dieser Situation schon im Jahr 2017 die Notwendigkeit, eine umfangreiche Publikation vorzulegen, die deutschen (Gruppen-)Reisenden bewusst Alternativen zu Besuchen in Oświęcim nahebringen will.[29] Der Band will aufzeigen, dass nicht alle, die einen historischen Ort der Shoah besuchen wollen, ausschließlich zum Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau fahren müssen. Weil sich besonders in Osteuropa eine Fülle an Schauplätzen von NS-Gewaltverbrechen nachweisen lässt, sei der gängigen Engführung der Shoah auf den industriell abgewickelten Massenmord in Birkenau entgegenzuwirken. Beispielsweise könnten historische Orte von Massenerschießungen, die in der aktuellen Forschung weit stärker fokussiert werden als die zentralen Lager,[30] besucht werden.[31] Insgesamt sei dementsprechend die Zentrierung auf den Lernort Auschwitz dringend zu überdenken, zumal sich an anderen historischen Orten ebenfalls pädagogisches Potenzial ausmachen lasse,[32] so der Tenor des Bandes der Bundeszentrale für politische Bildung .[33]

Allerdings sagen hohe Besucherzahlen wenig über die spezifische Zielsetzung der Gäste oder einen wie auch immer gearteten Lernerfolg aus,[34] zumal das Streben nach einem reflektierten und demokratischen Geschichtsbewusstsein nicht bei allen Reisenden zwingend vorauszusetzen ist. So zieht besonders der Schauplatz des »schrecklichste[n] Schlachthaus[es] der Menschheitsgeschichte«[35], wie es ein Polen-Reiseführer in DDR-Zeiten einst zugespitzt formulierte, heute Gäste des sogenannten »Dark Tourism« an, die sich am Schrecken des dort Vorgefallenen ergötzen wollen, aber in der Regel kein grundlegendes Bildungsinteresse verfolgen.[36] Daneben ist der Ort des Verbrechens zugleich Erinnerungsort einer internationalen extremen Rechten, die sich gegenüber gedenkstättenpädagogischen Intentionen strikt abgrenzt und ausdrücklich kein Interesse an einer universellen Menschenrechtsbildung oder an Fragen der Antisemitismusprävention zeigt.[37] Doch auch im klassischen Tourismus, der Oświęcim inzwischen vollständig erfasst hat und den Besuch dort zumeist mit einem Aufenthalt in Krakau verbindet, herrscht keineswegs immer ein aus Sicht der Geschichtswissenschaft angemessener Umgang mit den historischen Orten vor.[38] Vielmehr jagen die Besuchermassen einer Fiktion von »Authentizität« hinterher, die sich an den besuchten Orten ohnehin nicht mehr vorfinden lässt.[39] Wenn nun Jugendliche das Staatliche Museum in sehr hoher Quantität nicht zuletzt im Rahmen von schulischen Gruppenexkursionen aufsuchen, garantiert das noch nicht, dass die Besuche bei den einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmern zum Auf- und Ausbau eines reflektierten Geschichtsbewusstseins beitragen.[40]

Die Überfüllung der Gedenkstätte lässt sich auch in den Fotos der Schulgruppen - фото 2

Die Überfüllung der Gedenkstätte lässt sich auch in den Fotos der Schulgruppen gut nachweisen, beispielhaft eine Abbildung aus einer Reisedokumentation aus dem Jahr 2014. Quelle: ASEE A14-111-331

2 Fragestellung, Archivsituation und methodisches Vorgehen

Gegenstand der hier vorliegenden Studie ist indessen nicht der allgemeine (Massen-)Tourismus nach Oświęcim, sondern eine Sonderkohorte unter den Reisenden. Nachfolgend soll es um Lernende deutscher Bildungseinrichtungen gehen, die mit ihren Lehrkräften gemeinsam das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau besuchen. Dementsprechend sollen die Fahrten dazu führen – so sehen es die einschlägigen Curricula im Fach Geschichte vor –, bei den Schülerinnen und Schülern jenes reflektierte Geschichtsbewusstsein auf- und auszubauen.[41] Im Zentrum der Studie stehen denn auch die Subjekte und ihr individueller Annäherungsprozess an den besuchten Ort.[42] Es geht darum, ob das reflektierte Geschichtsbewusstsein mithilfe einer Exkursion zum vielleicht exponiertesten historischen Ort, den es für den Geschichtsunterricht an deutschen Schulen gibt, tatsächlich erreicht werden kann. Zugespitzter ließe sich mit Theodor W. Adorno fragen, ob persönliche Erkundungen des vormals größten Lagers innerhalb des NS-Terrorkomplexes tatsächlich dazu beitragen, dass »Auschwitz« sich nicht wiederhole, es also nicht nochmals sei?[43]

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