Omar atmet tief ein.
„G-gehe m-mit und e-erh-höhe um …“
Er darf höchstens um fünfzig Cent erhöhen.
„F-fünfzig Cent.“
Er hat mindestens zwei Zehnen auf der Hand, besser als Lucky. Lucky ist als Nächster dran. Er schielt mich von hinter seiner Sonnenbrille an. Ich schüttle kaum merklich den Kopf.
„Och. Bin raus“, sagt Lucky enttäuscht und legt seine Karten verdeckt weg.
Wie auf Kommando legen Karan, Lilith und Alba ihre Karten weg.
„
!“, brüllt Omar, springt auf und schleudert seine Karten auf den Tisch.
Lilith und Alba sind auch stinksauer.
„Das is echt das Letzte“, sagt Lilith.
„Nicht cool, Enni“, fügt Alba hinzu, als würde sie mit einem Hundewelpen reden, der ins Bett gepinkelt hat. „Nicht cool.“
„Ja ja“, sag ich lahm, dabei weiß ich natürlich, dass sie recht haben …
Nur Karan ist nicht sauer, sondern immer noch nervös. Genauso nervös wie vorher. Es hatte also nichts mit dem Spiel zu tun.
Omars Karten liegen überall verteilt. Eine Herzzehn ist in meinem Schoß gelandet, die Pikzehn hat sich mehrfach gedreht, bis sie unterm Tisch liegen geblieben ist. Lucky hebt sie auf und grinst mich dankbar an.
„Das war knapp, Mann!“, sagt er.
Da knattert es plötzlich draußen. Es klingt, als hätte einer unseren Aufsitz-Rasenmäher Mo angelassen. Aber es ist nicht Mo. Mo kann nicht fliegen. Und kaputt ist er auch. Ich weiß, wie es sich anhört, wenn ein Helikopter vor der Schule landet. Ich war dabei, als einer Ahmet Armut abgeholt hat.
„W-was soll d-das d-denn jetzt?“, ruft Omar.
Unsere Geschichtslehrerin Frau Pistara läuft mit langen Schritten durch den Saal und ans Fenster. Gleich darauf stürmen andere Internatsschüler rein.
„Was? Was ist das denn?“, ruft Alba aufgeregt.
„Nicht Mo“, ruft Lilith über den Lärm hinweg.
Nein, nicht Mo.
Nur zwei sind nicht überrascht. Wir wissen, was das Geräusch bedeutet. Karan steht starr wie ein
Eislutscher mit dem Rücken zum Fenster. Er sieht mich an. Deshalb war er nervös. Karan hat auf den Helikopter gewartet. Am Besuchstag.
„Deine Eltern?“, frage ich ihn leise.
Er nickt.
„Willst du rausgehen?“
Er bewegt den Kopf von links nach rechts.
„Aber du musst?“
Karan bewegt den Kopf von oben nach unten.
„Soll ich mitkommen?“
Kurz hoch, dann wieder runter.
Also gehen wir nebeneinanderher durch den großen Saal und durch die Eingangshalle. Ich reiche Karan nicht mal bis zur Schulter. Er hält seinen Bluechip an die Tür nach draußen. Sie summt leise und geht auf. Auch wenn du’s dauernd vor der Nase hast – der Anblick ist trotzdem immer wieder krass. Der Innenhof vom Internat ist Heidis
Bergwelt. Die Berggipfel rundherum sind sogar im Sommer weiß von Schnee. Direkt vor dem Internat breitet sich eine Almwiese aus, die in allen Farben blüht, und mittendrin liegt der See. Der Saakser See ist
kalt und ganz klar. Trotzdem ist er schwarz, so tief ist er. Weil heute Besuchstag ist, sind einige Ruderboote draußen. Ich sehe Dante und seine Schwester in einem Boot, das Dantes Mutter rudert. Sie reden und lachen, drehen sich aber nach dem Helikopter um, wie alle anderen auch. Der ist gerade ein gutes Stück hinter dem See gelandet.
Karan neben mir ist kreidebleich und würgt ein bisschen. Ich würd ja seine Hand nehmen, aber vielleicht macht das alles schlimmer. Ich mag’s auch nich, wenn einer einfach meine Hand nimmt. Is wie mit Dante und dem Rollstuhl-Schieben. Unser Lateinlehrer wollte Dante mal schieben, da hat er ihn angezischt: „Steigen Sie auch einfach so in fremde Autos und machen Spritztouren?“ Also lass ich meine Hand weiter da hängen, wo sie is, am Ende von meinem Arm. Wenn Karan sie braucht, kann er sie jederzeit nehmen. Macht er aber nicht. Stattdessen nimmt er die Schultern zurück. Ganz kurz seh ich ihn von der Seite, als wär er jemand anders. Oder niemand. Als wär in dem riesigen Karan-Körper keiner drin. Karan ist größer als jeder von unsern Lehrern. Er hat irre breite Schultern und muskulöse Arme und Beine. Sein Gesicht ist messerscharf und den unteren Teil muss er eindeutig rasieren. Ich sehe diesen Körper ohne Inhalt und begreife, dass Karan
Furcht einflößend sein könnte! Wenn die Furcht nicht in ihm drin wäre und aus den schrägen dunklen Augen nach draußen blinzeln würde. Und dann … seh ich Karans Gegenstück.
Aus dem Helikopter steigen zwei Leute. Eine wunderschöne, große Frau und ein kleiner Mann mit schwarzem Bart und Karans Augen. Zum ersten Mal begreif ich so wirklich, dass es stimmt: Augen sind die Fenster zur Seele! Weil: Zwischen Karans Augen und denen von seinem Vater gibt es nicht den kleinsten Unterschied. Sie sind beide so dunkel, dass man kaum die Pupille vom Rest unterscheiden kann. Sie sind schräg mit langen Wimpern und Augenbrauen, die sich darüber wölben wie Vögel, die ganz hoch oben über den Himmel ziehen. Damit endet die Ähnlichkeit. Aus Karans Augen schaut ein zahmes Reh, das dir aus der Hand fressen oder beim leisesten Geräusch weglaufen will. Durch die Augen von seinem Vater guckt ein Tiger, der darauf wartet, dich anzuspringen und aufzufressen.
Es ist wirklich unfair der ganzen Welt gegenüber. Dass diese zwei Menschen so falsch verpackt sind! Ein
Fehler, der Amazon nicht passieren würde. Die würden nicht ’nen Fernseher im Plastikbeutel verschicken, und ’n Kissen in einem verstärkten Pappkarton!
Karans Vater stapft auf uns zu, nicht das kleinste Lächeln in den Augen. Er sieht seinen Sohn von unten herauf an. Das macht ihn nicht weniger bedrohlich. Der Typ mit der Motorsäge muss auch aufschauen zum gigantischen Urwaldbaum. Und wir wissen, wie die Geschichte ausgeht.
„Also!“, knurrt er seinen Sohn an. Seine Stimme trägt sogar über den Motorenlärm hinweg. „Warum mussten wir Ahmet Armut feuern?“
Mir klappt der Unterkiefer runter. Ich starre Karan von der Seite an. Ich hab mich echt getäuscht. Er ist kein schlechter Pokerspieler. Dieses Blatt hätte ich in tausend Jahren nicht erraten.
Und dann steigt noch jemand aus dem Helikopter und ich bin zum ersten Mal in meinem Leben komplett und zu hundert Prozent
sprachlos.
Polizist Dirk sagt nichts. Er wirft seinen großen Seesack über die Schulter, schüttelt Karans Vater die Hand, klopft mir auf den Rücken – und geht auf die Schule zu.
„Was … wie … hä?“, stammle ich.
„Das ist euer neuer Hausmeister“, sagt Karans Vater und sieht mich böse an.
In dem Moment fasst Karan nach meiner Hand und drückt sie.
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